I. Am Anfang dieser Parascha heißt es: „Und der Ewige sprach zu Mosche auf dem Berg Sinai ... das Land soll dem Ewigen eine Schabbat-Ruhe halten“1 Raschi zitiert in seinem Kommentar Torat Kohanim: „Was ist die Beziehung zwischen der Schemita (dem Schabbat-Jahr) und dem Berg Sinai? Gewiss, alle Gebote wurden am Sinai gegeben! Aber so wie es mit der Schemita ist, dass sowohl ihre allgemeinen Regeln als auch ihre Einzelheiten am Sinai verordnet wurden, so wurden auch alle (Gebote der Tora) mit ihren allgemeinen Regeln und ihren Einzelheiten am Sinai verordnet.“

Es gibt auch andere Mizwot, deren Einzelheiten in der Tora festgelegt sind. Die Lektion vom „Berg Sinai“, d. h., dass „die allgemeinen Regeln und Einzelheiten für alle Gebote am Sinai festgelegt wurden“, könnte also genauso gut von jeder dieser anderen Mizwot abgeleitet werden. Warum wird dies dann speziell im Zusammenhang mit der Mizwa von Schemita gelehrt?

Als Antwort könnte man anführen, dass die allgemeine Regel der Schemita bereits früher, in Paraschat Mischpatim (also nach Matan Tora), festgelegt wurde: „Aber im siebten Jahr sollst du [das Land] unbestellt lassen und es aufgeben“2 ; dennoch wird diese Mizwa in Paraschat Behar mit Einzelheiten wiederholt. Diese Antwort ist jedoch unbefriedigend, denn es gibt auch andere Gebote, die bereits in Paraschat Mischpatim genannt werden.

Außerdem sollte jede Mizwa, die als Beweis für alle Gebote dienen soll, eine umfassende Mizwa sein. Warum wird dann die Mizwa von Schemita gewählt, die ein sehr spezifisches Gebot zu sein scheint? Das Problem wird noch verschärft, wenn man bedenkt, dass diese Mizwa auch mehreren Einschränkungen unterliegt: a) Die biblische Verpflichtung zur Mizwa gilt nur in den Zeiten, in denen das Gebot des Jowel (des Jubeljahres) eingehalten wird. Zwar muss die Schemita auch heute noch praktiziert werden, aber die meisten Autoritäten sagen, dass die Einhaltung der Schemita heute nur auf rabbinischem Erlass beruht. Wir sehen also, dass die Schemita zeitlich begrenzt ist. b) Es gibt auch eine räumliche Begrenzung, denn die Schemita gilt nur im Land Israel, und nicht außerhalb des Landes.3

Nichtsdestotrotz lehrt uns die Tora die obige Lektion im Zusammenhang mit Schemita. Daher müssen wir zwangsläufig sagen, dass es einen allgemeinen, umfassenden Aspekt dieser Mizwa gibt, wie weiter unten erklärt wird.

II. Der nächste Vers in unserer Parascha lautet: „Sechs Jahre sollst du dein Feld besäen und sechs Jahre sollst du deinen Weinberg beschneiden ...“4 Diese Tätigkeiten sind nicht verpflichtend, sondern freiwillig, und daher ist es offensichtlich verboten, sie im siebten Jahr zu verrichten. Warum also muss die Tora diesen Vers zitieren?

Daraus müssen wir schließen, dass die Worte „Sechs Jahre sollst du dein Feld besäen ...“ ein wichtiger Teil der Mizwa von Schemita ist. Mit anderen Worten, diese Mizwa beinhaltet nicht nur das Gebot „Das siebte Jahr soll ein Schabbat Schabbaton (Schabbat der Ruhe) für das Land sein“5, sondern auch „Sechs Jahre sollst du besäen ...“ Letzteres ist in zweierlei Hinsicht Teil dieser Mizwa:

a) Es ist eine Vorbereitung auf die Mizwa von Schemita: Indem man das Land sechs Jahre lang bearbeitet, kann man „Das siebte Jahr soll ein Schabbat Schabbaton sein“ einhalten.

b) Das ist der eigentliche Zweck der Mizwa von Schemita: Der eigentliche Zweck oder die Absicht der Ruhe im Schabbat-Jahr ist, dass man danach „sechs Jahre säen soll ...“

III. Der schlichte Sinn von Schemita ist, dass das Land im siebten Jahr ruhen muss: „Du sollst dein Land nicht besäen und deinen Weinberg nicht beschneiden.“6 Im siebten Jahr muss man jede Arbeit auf den Feldern unterlassen, die das Grundnahrungsmittel des Menschen für seinen Lebensunterhalt liefern.

„Und wenn ihr sagen werdet: Was sollen wir essen ...?“7 Darauf antwortet die Tora: „Ich werde Meinen Segen geben ... und (das Land) wird drei Jahre lang Ertrag bringen.“8

Die Bedeutung der Mizwa von Schemita besteht darin, dass ein Jude einmal alle sieben Jahre aufgefordert wird, sich von allen weltlichen Bedürfnissen zu trennen. Er soll sich von allen Beziehungen zu dem Land lösen, das für ihn das Brot hervorbringt, das seinen Lebensunterhalt sichert. Er soll sich ganz auf G-tt verlassen, dass Er ihn auf übernatürliche Weise ernähren wird.9

Dieser Ansatz soll jedoch nicht die Norm sein. Die meiste Zeit muss ein Jude – quantitativ gesprochen – mit weltlichen Dingen zu tun haben, um Awodat haBirurim (den Dienst der Läuterung und Verfeinerung der physischen Realität) zu leisten.10 Deshalb wurde die Welt mit dem G-ttlichen Namen Elokim erschaffen,11 dessen Gematria (numerisches Äquivalent) haTewa (Natur) ist.12 Denn der Mensch muss mit den Dingen, wie sie in der natürlichen Ordnung sind, so umgehen, wie es ihm in der Tora vorgeschrieben ist, und dadurch läutert und verfeinert er die Dinge der Natur.

Andererseits gibt es bestimmte Zeiten, in denen ein Jude aufgefordert ist, aus der Welt heraus zu gehen. Gewiss, die Welt muss geläutert werden. Dennoch muss es zu bestimmten Zeiten einen Schritt geben, sich über die Welt hinaus – höher als diese – zu stellen.

IV. Diese beiden Aspekte („in“ der Welt und „jenseits“ der Welt) sind voneinander abhängig.

Jenseits der Welt zu stehen, wird durch die Worte „Das Land soll laHawaja (für den Ewigen) eine Schabbat-Ruhe halten“ angedeutet.13 Der Name Hawaja bedeutet die absolute Einheit von „Er war, Er ist und Er wird sein“14, der über den Namen Elokim – dessen Gematria (und Bedeutung) haTewa ist – hinausgeht.15 Aber man kann diese Ebene nur durch weltliche Beschäftigungen erreichen, die der Tora entsprechen.

Die Bedeutung von „Du sollst dein Feld besäen ...“ impliziert offensichtlich, dass man bei der Bearbeitung des Feldes darauf achten muss, die Anforderungen des jüdischen Gesetzeskodex zu befolgen, wie z. B. das Verbot von Kilajim16 usw. In diesem Zusammenhang ist dieser Vers – „Sechs Jahre sollst du dein Feld besäen ...“ – Teil der Mizwa von Schemita im ersten oben genannten Sinne: als Vorbereitung auf das siebte Jahr.

Was den zweiten Sinn betrifft: Eine Läuterung von weltlichen Dingen kann man nur erreichen, wenn man sich und seine Awoda gelegentlich ganz über die Welt, über die natürliche Ordnung hinausführt. Denn dies stellt nicht nur sicher, dass man nicht von der Welt überwältigt wird, wenn man in sie zurückkehrt, sondern auch, dass man in der Lage ist, die Welt selbst in ein Gefäß für die G-ttlichkeit zu verwandeln.17

So heißt es im Kuntres Ez haChajim,18 dass man, um das richtige Maß an Jichuda tata-a zu erreichen, zunächst – zumindest in allgemeiner Form – das Prinzip von Jichuda ila-a spüren muss.19

So ist der Vers „Sechs Jahre sollst du besäen ...“ Teil der Mizwa von Schemita im zweiten Sinne, d. h. als deren letzter Sinn und Zweck. Denn ohne den Aspekt, sich der Welt zu entledigen, kann es das Ziel einer Läuterung der Welt nicht geben.

V. Der gleiche Gedanke gilt auch für das Verhältnis zwischen dem Schabbat und den sechs profanen Tagen der Woche.

Die sechs Wochentage sind durch die Awoda von Birurim (Läuterung des Profanen; Aussieben und Herauslösen des Unheiligen vom Heiligen) gekennzeichnet: „Sechs Tage sollst du arbeiten ...“20 Die Arbeit von Borer (aussortieren, trennen, herauslösen) ist jedoch am Schabbat verboten.21 So heißt es über den Schabbat: „Wajechal Elokim (und G-tt vollendete) ...“22 : Alle Verhüllungen, die der Name Elokim impliziert, sind vollendet, und es gibt nun eine Erleuchtung durch den Namen Hawaja, die über die Natur hinausgeht.23

Es zeigt sich also, dass die beiden Aspekte des Schabbat und der Wochentage voneinander abhängig sind.

VI. Schemita hat einen Vorteil gegenüber dem Schabbat. Am wöchentlichen Schabbat ist es verboten, irgendeine Arbeit zu verrichten; der Mensch steht auf einer Ebene jenseits der Weltlichkeit, jenseits jeder Beziehung zur Welt. Im Schemita-Jahr hingegen darf man alle Arten von regulärer Arbeit verrichten, mit Ausnahme der verbotenen Feldarbeiten. Das bedeutet, dass man im Schemita-Jahr in der Welt verbleibt, obwohl gleichzeitig „das Land eine Schabbat-Ruhe für Hawaja halten soll.“ Das heißt, die Awoda von Birurim, die sich auf den Namen Elokim bezieht, gilt nicht, denn trotz der Tatsache, dass man „in“ der Welt ist, ist es eine Schabbat-Ruhe für Hawaja, eine Ruhe auf einer Ebene, die die Welt übersteigt. Der Name Hawaja, der die Welt insgesamt transzendiert, fließt in die Welt ein.

Dies entspricht der Auslegung des Baal Schem Tow:24 „Das Land soll eine Schabbat-Ruhe halten“ – d. h., es gibt eine Ruhe und Bitul (Selbstverneinung) im Land; die Ruhe wird in die weltlichen Dinge selbst hineingebracht.

VII. Wir können nun Raschis Kommentar zu „Schabbat laHawaja (eine Schabbat-Ruhe für den Ewigen)“ verstehen, dass dies „um G-ttes willen“ bedeutet, in demselben Sinne, wie es vom Schöpfungs-Schabbat gesagt wird.25 Welche Klarstellung fügt Raschi hier hinzu?26 Im Zusammenhang mit dem oben Gesagten ist es klar:

Im Schemita-Jahr darf man der täglichen Arbeit nachgehen. Man bleibt mit der Weltlichkeit verbunden. So könnte man meinen, dass das Verbot des Pflügens und Säens in diesem Jahr nichts mit Hawaja zu tun hat, mit dem Aspekt der Überwindung der Welt. Es scheint, dass es nur ein weiterer Teil der Awoda von Birurim (Läuterung der Welt) ist, so wie „Sechs Jahre sollst du besäen ...“ eine Läuterung innerhalb der weltlichen Realität selbst bedeutet, im Gegensatz zu jenseits von ihr.

Raschi stellt also fest, dass die Schemita-Ruhe „für Hawaja ist, so wie es vom Schöpfungs-Schabbat gesagt wird.“ Es ist eine Ruhe des Landes, das den hauptsächlichen Lebensunterhalt des Menschen produziert, also eine Abkehr von der Welt, genau wie beim Schabbat. Die Tatsache, dass im Schabbat-Jahr alle anderen Formen der Arbeit erlaubt sind, bedeutet eine zusätzliche Qualität: Das G-ttliche Licht von Hawaja, das die Welten insgesamt transzendiert, fließt auch in die profanen Tätigkeiten selbst ein.27

VIII. All dies erklärt, warum die Mizwa von Schemita ein allumfassendes Gebot ist. Seine Bedeutung ist die eigentliche Essenz aller Gebote, jedoch kommt sie in der Mizwa von Schemita explizit zum Ausdruck.

Der Alte Rebbe erklärt im Tanja, dass „die Beschäftigung mit der Tora, den Mizwot und dem Gebet eine Angelegenheit der tatsächlichen Mesirat Nefesch (Hingabe der Seele) ist, wie wenn (die Seele) den Körper verlässt ... denn sie denkt nicht mehr an körperliche Bedürfnisse, sondern ihre Gedanken sind mit den Buchstaben der Tora und des Gebets vereint und in ihnen verankert.“28 Das bedeutet, dass man sich bei der Beschäftigung mit Tora, Mizwot und Gebet genauso fühlen muss, wie wenn die Seele den Körper bereits verlassen hat – „Zu Dir, Hawaja, erhebe ich meine Seele.“29

Andererseits muss man aber auch jede Mizwa genau so befolgen, wie sie vorgeschrieben ist, mit allen Vorschriften in Bezug auf Zeit und Ort und allen spezifischen Details jeder Mizwa. All diese Vorschriften und Details sind Einschränkungen und Begrenzungen, die mit der Realität der physischen Welt zu tun haben.

Die G-ttlichen Gebote beinhalten also zwei Aspekte: a) Es muss einen Ansatz in der Art von Mesirat Nefesch geben, eine Abkehr vom Körper und der physischen Realität; und b) in eben dieser Geisteshaltung muss man die Mizwa in all ihren Einzelheiten und Spezifikationen befolgen. Das Endliche wird so von der Unendlichkeit durchdrungen.

Bei den Mizwot im Allgemeinen ist diese Anforderung verborgen.30 Sie macht sich nur in der Art und Weise bemerkbar, wie sie befolgt werden. Bei der Mizwa von Schemita ist sie jedoch explizit. Sie ist in dieser Mizwa selbst erkennbar.

IX. Woher nimmt man die Kraft, dies zu erreichen? Vom Berg Sinai!31

Unsere Weisen sagen,32 dass sich alle Berge zur Zeit von Matan Tora versammelten. Jeder beanspruchte für sich das Privileg, dass die Tora auf ihm gegeben werden solle. Der Berg Tabor behauptete, er sei den anderen Bergen überlegen, weil er der höchste aller Berge sei. Der Berg Karmel argumentierte, dass er bei der Teilung des Roten Meeres geholfen habe. Der Allmächtige antwortete ihnen: „Lama Terazdun, warum wollt ihr streiten – (Terazdun als Ausdruck für Tirzu Din, ein juristisches Urteil suchen), Harim Gawnunim (Berge mit hohen Gipfeln)? Euer Selbstwertgefühl und eure Arroganz fügen euch einen Makel zu – (wobei Gawnunim als sprachlich verwandt mit Giben – buckelig; abgemagert zu lesen ist33 )! Der Berg, den G-tt zu Seiner Wohnstätte erwählt hat, ist der Sinai, der niedrigste aller Berge.“

Dieser Midrasch wirft ein Problem auf: Wenn Bescheidenheit die höchste Tugend ist, hätte die Tora in einem Tal oder zumindest auf einer ebenen Fläche gegeben werden müssen, aber nicht auf einem Berg. Wenn wiederum die Höhe von entscheidender Bedeutung ist, dann hätte die Tora auf einem Berg gegeben werden müssen, der höher als der Berg Sinai ist.

Matan Tora versuchte jedoch, zwei Gegensätze zu vereinen: Es sollte eine materielle Realität geben, und diese materielle Realität selbst sollte in G-ttlichkeit verwandelt werden. Dies wird durch den Berg Sinai, den niedrigsten aller Berge, symbolisiert: Er ist gleichzeitig niedrig und hoch.

Aus dem Aspekt „vom Berg Sinai“ schöpfen die Juden die Kraft für die allumfassende Mizwa von Schemita, um die materielle Realität selbst in G-ttlichkeit zu verwandeln und so das letztendliche Ziel zu erreichen, eine Wohnstätte für den Heiligen, gesegnet sei Er, in den unteren Welten zu errichten.34

X. Dies erklärt den üblichen Ausdruck „vom Sinai“, der überall verwendet wird: „Mosche empfing die Tora vom Sinai35, „Ein Gesetz, das Mosche vom Sinai her zugeschrieben wird“36, „Was immer ein fleißiger Student noch entdecken wird, wurde (bereits) Mosche vom Sinai her gesagt“37 und so weiter. Warum diese ständige Hinzufügung des Begriffs miSinai (vom Sinai)? Das Einzige, was zählt, ist die Tatsache, dass es von G-tt stammt, der überall ist – „Es gibt keinen Ort, an dem Er nicht wäre“38 –, warum dann diese Betonung auf miSinai?

Im Zusammenhang mit dem oben Gesagten ist die Antwort klar. Der Zweck der Tora ist es, die beiden Gegensätze „Berg“ und „niedrig“ zu vereinen und die niederen Welten in eine Wohnstätte für die G-ttlichkeit zu verwandeln.

Das ist in der Tat die besondere Wirkung von Matan Tora. Die Einhaltung der Mizwot nach Matan Tora geht über die der Patriarchen hinaus, die die gesamte Tora befolgten, noch bevor sie Israel gegeben wurde;39 denn die Patriarchen befanden sich nur auf der Ebene von „Jemand tut es, obwohl es ihm nicht befohlen wurde.“40 Sie geht auch über die Einhaltung der sieben noachidischen Gesetze41 und sogar der in Mara befohlenen Mizwot hinaus.42 So heißt es im Midrasch Rabba43, dass es vor Matan Tora ein Dekret gab, dass Himmel und Erde nicht verbunden werden können: „Die Himmel sind die Himmel des Ewigen, aber die Erde hat Er den Menschenkindern gegeben.“44 Matan Tora hob dieses Dekret auf.45 Der ganze Zweck von Matan Tora war es, Himmel und Erde zu verbinden, und deshalb geschah es auf dem Berg Sinai – die Vereinigung von zwei Gegensätzen.

Deshalb wird auch immer wieder betont, dass die Tora „vom Sinai“ gegeben wurde. Wenn jemand argumentiert: „Wie kann ich zwei Gegensätze verbinden?“, wird ihm gesagt: „Diese Fähigkeit wurde dir am Sinai gegeben. Der Allmächtige hat diese Fähigkeit, Gegensätze zu verbinden, in die unbelebte Materie gelegt, in die niedrigste aller weltlichen Existenzen. Wie viel mehr kann dann der Mensch, das vernunftbegabte Wesen, das höchste aller weltlichen Existenzen, die Gegensätze vereinen und das Ziel erreichen, der G-ttlichkeit an den niedrigsten Orten eine Wohnstätte zu verschaffen, d. h., dass die niedrigsten Orte selbst zu einer Wohnstätte für Seine gesegnete G-ttlichkeit werden!“

XI. Der physische Berg Sinai versöhnte die beiden Gegensätze „Erhebung“ und „Verneinung.“ Jedes Detail der Tora ist präzise. Dieser Aspekt des Berges Sinai spielt also nicht nur auf die Vereinigung der oberen und unteren Reiche im Allgemeinen an. Er bietet auch einen Hinweis darauf, wie diese Versöhnung der beiden Gegensätze von Erhebung und Verneinung für denjenigen von Bedeutung ist, der die Tora studiert und die Mizwot befolgt.

In diesem Zusammenhang gibt es mehrere Lektionen:

XII. 1) Es gibt zwei Bedingungen für Kabbalat haTora (den Empfang der Tora):

a) Starke Entschlossenheit und „Erhebung“46 im Gegensatz zu einem Gefühl der Beschämung durch diejenigen, die einen verspotten würden. Gleich zu Beginn des Schulchan Aruch, des gesamten Kodex des jüdischen Rechts, heißt es: „Man soll sich nicht wegen der Spötter beschämt fühlen.“ Man soll sich nicht von irgendjemandem oder irgendetwas in der Welt beeinflussen lassen, sondern von der richtigen Entschlossenheit beherrscht sein, die Tora zu studieren und die Mizwot zu befolgen. b) Selbstverneinung und Demut. Über die Selbstüberschätzung heißt es: „Der Heilige, gesegnet sei Er, erklärt: Ich und er (der Hochmütige) können nicht beide in dieser Welt wohnen.“47 Die Aufnahme der Tora erfordert Selbstverneinung: „Meine Seele soll für alle wie Staub sein“48 – denn das führt zu „Öffne mein Herz für Deine Tora, und lass meine Seele Deinen Geboten folgen.“49

Diese beiden Aspekte, Entschlossenheit und Erhebung einerseits, und Verneinung und Demut andererseits, widersprechen sich nicht. Die Entschlossenheit entsteht nicht durch Selbstwertgefühl, indem man sich selbst als autarkes Wesen sieht. Im Gegenteil: Man erkennt sehr wohl, wie es um den eigenen Zustand bestellt ist und dass alle anderen besser sind als man selbst – das Konzept des „niedrigsten aller Berge.“ Dennoch zeigt er, wenn es um Tora und Mizwot geht, eine starke Entschlossenheit in der Erkenntnis, dass er den Willen G-ttes ausführt. Er ist der Ausführung des G-ttlichen Willens so hingegeben und verpflichtet, dass es ihn mit der stärksten Entschlossenheit erfüllt, bis zu dem Punkt, dass alle Hindernisse und Hemmnisse zur Seite fallen.50

Seine Geisteshaltung ist eine der totalen Selbstverneinung, und doch auch des Stolzes und der Entschlossenheit, die Tora zu empfangen und sie mit Mesirat Nefesch zu befolgen.

XIII. 2) Auf einer tieferen Ebene: Alle Berge kamen zum Allmächtigen mit der Forderung, dass die Tora auf ihnen gegeben werden sollte, weil sie hohe Berge waren. Dies zeigt, dass es eine positive Eigenschaft ist, ein Berg zu sein.

Wenn ein Berg zu sein nicht mehr bedeutet als Höhe, ein Gefühl der Überschätzung und der eigenen Größe, dann hätten die Berge niemals gewagt, sich vorzustellen, dass die Tora auf ihnen gegeben werden könnte, denn „(Die Tora) ist nicht unter den Hochmütigen zu finden.“51 Daraus folgt, dass diese Erhebung, die in dem Anspruch der Berge impliziert ist, eine positive Eigenschaft ist.

Chassidut erklärt also, dass der Begriff „Berg“ die Läuterung und Verfeinerung der unbelebten Materie bedeutet, den Aspekt der „vegetativen Ebene“ in der unbelebten Materie.52 Dennoch muss man sich auch dann – und gerade dann – in einem Modus der totalen Selbstverneinung und Demut befinden.

Das gleiche Prinzip gilt auch auf der geistigen Ebene. „Es ist überliefert, dass niemand arm ist als derjenige, dem es an Wissen mangelt“,53 und umgekehrt ist niemand reich als derjenige, der Wissen hat.54 Die Selbstverneinung „Meine Seele sei wie Staub für alle“, die eine notwendige Vorbereitung für „Öffne mein Herz für Deine Tora ...“ ist, wird sogar von demjenigen verlangt, der reich an Wissen ist. Auch wenn er weiß, dass er wirklich reich ist, muss er gleichzeitig spüren, dass er wirklich „wie Staub für alle“ ist.

Dies ist die wohlbekannte Bedeutung des Verses „Und der Mann Mosche war sehr demütig, mehr als alle Menschen auf der Erde“:55 Mosche war sich seiner überlegenen Qualitäten voll bewusst, die so besonders waren, dass die Tora durch ihn gegeben wurde. Dennoch betrachtete er sich als niedriger als alle Menschen auf der Erde, sogar als die Generation in den Tagen, die als „Fersen des Maschiach“ bezeichnet werden. Mosche betrachtete seine einzigartigen Eigenschaften nur als eine Gabe G-ttes. Wäre ein anderer mit den gleichen Qualitäten ausgestattet gewesen, so hätte dieser seiner Meinung nach mehr erreicht als er selbst.56

Aufgrund seiner Selbstverneinung, weil er sich trotz seiner besonderen Eigenschaften nicht selbst überhöhte, war Mosche das geeignete Gefäß für die Tora. Deshalb wurde die Tora durch ihn gegeben.

XIV. Dies erklärt nun die Betonung in dem Ausdruck „Mosche empfing die Tora vom Sinai.“ Warum wird Mosche erwähnt? Die eigentliche Bedeutung dieser Mischna ist es, uns zu lehren, dass die Tora von G-tt kommt; welchen Unterschied macht es dann, wer sie empfangen hat?

Im Zusammenhang mit dem oben Gesagten ist dies nun jedoch klar. Die Betonung, dass Mosche die Tora empfing, ist wie die Betonung, dass die Tora vom Sinai kam. Jeder Jude, der sich der Tora nähert, muss die Eigenschaften von Mosche, die ihm selbst innewohnen,57 in beiden Aspekten zur Geltung bringen:

a) Es muss sowohl Entschlossenheit als auch Verneinung geben, wie es von Mosche heißt, dass er „ein König in Jeschurun“58 war und gleichzeitig „sehr demütig, mehr als alle Menschen.“ b) Es muss Demut geben, auch wenn man sich seiner eigenen Qualitäten bewusst ist.

XV. Aus diesem Grund studieren wir Pirkej Awot in den Wochen zwischen Pessach und Schawuot, dem Zeitraum, der auf „Wenn du das Volk aus Ägypten führst“ folgt und dem „Ihr werdet G-tt auf diesem Berg dienen“59 vorausgeht. Dieses Studium von Pirkej Awot ist eine Vorbereitung auf Matan Tora60 (denn das Traktat Awot befasst sich mit Charaktereigenschaften und Derech Erez (ordnungsgemäßes Verhalten), von dem es heißt: „Derech Erez geht der Tora voraus“61 ). Der Anfang von Awot lautet: „Mosche empfing die Tora vom Sinai“, d. h., der erste Schritt zur Vorbereitung auf Kabbalat haTora (Empfang der Tora) besteht für jeden Juden darin, sich die Eigenschaften von Mosche und Sinai anzueignen. Dies ist die erste Vorbereitung, um die Tora mit Freude und Pnimijut (Innerlichkeit) zu empfangen.

(Adaptiert aus Sichot gehalten am Schabbat Paraschat Behar 5718 und Schabbat Mewarchim Ijar 5716)