Können wir glauben und dennoch Kummer haben?

Einmal kam eine junge Frau zu mir. Die Mutter ihrer Freundin war vor Kurzem gestorben, und sie wollte trauern und weinen – aber sie fürchtete, Tränen würden ihren Glauben an G-ttes Güte beeinträchtigen. Aber ist G-tt schrecklich, wenn wir ein Ereignis für schrecklich halten?

Glaube und Vertrauen

Unsere Tradition verlangt von uns Glaube und Vertrauen. Angesichts einer Tragödie beten wir zu G-tt und vertrauen darauf, dass er uns beschützt. Und wenn eine Tragödie uns trifft, sollen wir glauben, dass sie letztlich einem guten Zweck dient. „Alles, was G-tt tut, ist gut“, lauten die unsterblichen Worte von Rabbi Akiva. Denn der allmächtige G-tt ist vollkommen in seiner Güte. Wir müssen Paradoxa akzeptieren, nicht lösen. Sie deuten auf eine Ebene der Weisheit hin, die unser Verstand nicht begreifen kann.

Dennoch bleibt ein Problem: Wenn wir glauben, dass sogar Tragödien vollkommen gut sind, warum bitten wir dann G-tt, uns zu beschützen? Und warum vertrauen wir darauf, dass er uns beschützt und dadurch die guten Folgen verhindert, die das Leid für uns gehabt hätte? Trotzdem sind Glaube und Vertrauen typisch jüdisch. Wie ist dieser scheinbare Widerspruch zu erklären?

Das war im Grunde die Frage der jungen Frau.

Das Paradox

Wir müssen Paradoxa akzeptieren, nicht lösen. Sie deuten auf eine Ebene der Weisheit hin, die unser Verstand nicht begreifen kann. Intuitiv spüren wird, dass beide Elemente des Paradoxons wahr sind, dass wir sie aber nicht erklären können. Das ist nicht schlimm. Es ist ein Trost zu wissen, dass wir nicht alles erklären können und müssen, weil manche Dinge unser Begriffsvermögen übersteigen.

Wir wissen nicht, dass G-tt vollkommen gut ist – ein solches Wissen übersteigt unsere Fähigkeiten –; wir glauben es. Wir können nicht erklären, was der Tod eines Kindes oder das Leiden eines Unschuldigen der Menschheit nützt. Aber wir glauben, dass dieses Leiden Gutes bewirkt, weil alles, was G-tt tut, auf einer höheren Ebene gut sein muss. Aber wir sollten nicht behaupten, es zu verstehen. Auf unserer Ebene ist Leiden schrecklich. Keine Mutter kann jubeln, wenn ihr Kind stirbt. Aber jede Mutter wird getröstet von ihrem Glauben an ein höchstes Wesen, das sich mit unendlicher Güte um ihr Kind kümmert.

Leid und Trost gehen Hand in Hand und widersprechen sich nicht. Wir können das nicht erklären, aber wir wissen, dass es so ist. Würden wir unseren Glauben wegen unseres Kummers leugnen, würden wir einen Teil unserer Seele verleugnen. G-tt hat uns so geschaffen, wie wir sind, und er kennt die Grenzen des menschlichen Verstandes. Er erwartet von uns, über den Verlust eines geliebten Menschen zu trauern, obwohl wir an G-ttes Güte glauben. Er erwartet, dass wir weinen und Kummer empfinden, obwohl wir seinen Willen als gut akzeptieren. Der Glaube tröstet uns in Zeiten der Trauer, aber er verhindert die Trauer nicht.

Ich erklärte der jungen Frau, sie dürfe ihre Freundin umarmen und mit ihr weinen, ohne ihren Glauben an G-tt zu verleugnen. Glaube bedeutet nicht Gefangenschaft, sondern Freiheit. Er ermöglicht es uns, über unser begrenztes Wahrnehmungsvermögen hinauszugehen und zu glauben, dass es eine höhere Gerechtigkeit gibt, die unser Verstand nicht erfassen kann. Glaube tröstet uns im Kummer; aber er verhindert den Kummer nicht.

G-tt vor Gericht?

Es gibt eine Geschichte über drei Rabbiner, die nach dem Holocaust ein jüdisches Gericht einberiefen, um G-tt anzuklagen. Sie befanden G-tt des Verstoßes gegen die Tora schuldig ... und anschließend beteten sie gemeinsam.

Aber wenn G-tt schuldig ist, warum beteten sie dann?

Ein Richter muss aufgrund seines Wissens über den Fall urteilen. Nach unserem Verständnis war der Tod von sechs Millionen Juden eine schreckliche Tragödie, an der G-tt schuld ist. Dies abzustreiten wäre eine Lüge. Doch auf der g-ttlichen Ebene ist alles, was G-tt tut, vollkommen richtig, und es wäre töricht, wenn wir versuchten, das zu verstehen. Obwohl wir es nicht begreifen, akzeptieren wir es – genau das nennen wir glauben.

Als Awraham seine Frau Sara verlor, trauerte er um sie und weinte bittere Tränen. Was geschah mit dem spirituellen Krieger, der auf G-ttes Befehl beinahe seinen Sohn geopfert hätte? Trübte der Verlust seiner Frau seinen Glauben an G-ttes vollkommene Güte? Durchaus nicht. Hätte er seinen Sohn tatsächlich opfern müssen, hätte er ebenfalls getrauert. Dass er G-ttes Befehl befolgte, lag an seinem Glauben. Sein Kummer war die Folge seiner Liebe zu seiner Familie. Beide Erfahrungen sind echt, und wir können und müssen dieses Paradox nicht erklären.