Von den 79.976 Wörtern der Thora ist keines überflüssig. Unzählige Vorschriften sind in der Thora nicht angeführt und wurden nur durch einzelne Wörter erlernt. Die Thora geht sparsam mit ihren Wörtern um. Wenn das schon bei Vorschriften der Fall ist, dann um so mehr bei „bloßen“ Geschichten in der Thora.
Doch die Erzählung über den Knecht Elieser, der von Awraham geschickt wurde um eine Frau für Itzchak zu finden, bildet da eine Ausnahme. Die Thora berichtet davon nicht nur im kleinsten Detail, sondern wiederholt die gesamte Geschichte ein zweites Mal, als Elieser die Ereignisse der Familie der zukünftigen Braut schildert. Unsere Meister schließen daraus: „Das Gerede der Knechte unserer Vorväter ist liebevoller als die Thoralehre ihrer Kinder“1 – eine kritikwürdige Aussage. Wie kann man behaupten, dass das bloße Gerede eines Knechtes über profane Dinge wichtiger sei als die g-ttgegebene Thoralehre?
G-ttes „Gerede“
Die Lehre der Chassidut bietet eine tiefgründige Antwort2: Die „Thora“ ist die Lehre G-ttes und Seine Gebote. Doch G-tt führt auch ein „Gerede“, wie es heißt: Er sprach und es wurde.3 Die Zehn Sprüche, mit denen G-tt die Welt erschaffen hat, gelten als Gerede für Ihn, denn im Vergleich zu Seiner Größe ist die Welt, als ob sie nicht erschaffen worden wäre. Und die Beschäftigung mit der Welterschaffung ist für G-tt wie ein unwichtiges, profanes Gerede.
Wie unbedeutend die Zehn Sprüche auch für G-tt sind, so erschafft uns doch Sein „Gerede“ in jedem Augenblick. Täglich sprechen wir im Gebet: „Der in Seiner Güte die Schöpfung ständig an jedem Tag von Neuem kreiert.“ Und damit G-tt Sein „Gerede“ weiterhin fortsetzt, muss die Welt sich würdig zeigen und das „Gerede G-ttes nachahmen“.
Menschen-“Geschwätz“ ...
Die rabbinische Weisheit „Wisse was über dir steht“4 interpretiert der Maggid von Mesritsch5 wie folgt: „Wisse, dass alles was über dir steht (abläuft), von dir kommt, von deinen Taten.”6 Damit G-tt mittels Seines „Geredes“ die Welt weiterkreiert, liegt es an uns auf dieselbe Weise, mittels unseres „Geredes“, zu agieren.
Des Juden G-ttesdienst besteht aus dem Erfüllen der Gebote einerseits, aber auch der Auseinandersetzung mit dem alltäglichen Weltlichen – dem „Gerede“ – andererseits. Sein profanes Alltagsleben wandelt sich dann zum G-ttesdienst, wenn er es dem g-ttlichen Willen widmet (z.B. man isst um Kraft für das Gebet zu haben usw.).
Einen G-ttesdienst in Form von „Gerede“ finden wir bei Elieser. Obwohl sein Gespräch von profanen Dingen handelte (und nicht etwa Lehren der Thora zum Inhalt hatte) und sich an ebenso profane Menschen richtete, war daraus dennoch ersichtlich, dass alles im Licht des Auftrags von Awraham stand, dem wahren G-ttesdiener. So machte Elieser zu Beginn seiner Erzählung zweifellos klar: Ich bin der Knecht Awrahams.
... für eine sinnvolle Sache
Nun verstehen wir die Lehrweisung unserer Meister, dass das Gerede der Knechte unserer Vorväter liebevoller sei als die Thoralehre ihrer Kinder. Damit lehren sie uns, wie wichtig die Beschäftigung mit dem Weltlichen – profanem „Gerede“ – für den g-ttlichen Willen ist, da sie selbst das Thorastudium und die Mitzwot übersteigt. Der perfekte G-ttesdienst besteht aus beiden Pfaden, doch durch unser „Gerede“ bewirken wir, dass G-tt sein „Gerede“ fortsetzt und die Welt erhält.
Obwohl die Beschäftigung mit dem Weltlichen keine Heiligkeit in sich trägt und sie in dieser Hinsicht auf einer niedrigeren Stufe als die Thora steht, bringt jedoch eine richtige Auseinandersetzung mit dem Profanen G-tt samt Seiner Herrlichkeit auf diese Welt! Denn den Willen G-ttes selbst in den alltäglichen Dingen zu erfüllen, führt zu einer einzigartigen, harmonievollen Verbindung zwischen der g-ttlichen Heiligkeit und dem irdischen Dasein, deren Höhepunkt wir zur vollkommenen Erlösung erleben werden!
(Likutej Sichot, Band 20, Seite 330)
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