Auf meinem Schreibtisch liegen Bilder und eine Einladung - so verschieden sie sind, so sind sie sich doch so ähnlich. Die Bilder sind von einer vergangenen Generation, die nie wirklich war, und die Einladung stellt die zukünftige Generation dar, die vielleicht nie sein wird.
Ich schaue mir diese Bilder wieder und wieder an. Einige sind bereits verfärbt, andere mit dem Alter vergilbt. Die Opfer sind vor allem in ihren frühen 20er Jahren. Sie lachen am Strand, sitzen in einem Boot, posieren vor dem Haus, feiern eine Hochzeit. Sie sind schön gekleidet. Style muss ihnen wichtig gewesen sein. Die Männer tragen Krawatten, Westen und Jacken, - die Frauen Kostüme und schöne Hüte. Alle von ihnen schrieben kurze Botschaften auf die Rückseite der Fotos: „Erinnere mich für immer“.
Mein Großvater kann sich an die meisten Namen nicht mehr erinnern. Es ist nicht seine Schuld. Es sind schon viele Jahre vergangen. Wie wir nun auf seinem Sofa in seiner Wohnung in Tel Aviv sitzen, schauen wir uns jedes Bild an. Wer war das? Was bedeutet dieser Name auf der Rückseite? „Ja, klar erinnere ich mich an den - wir sind gemeinsam aufgewachsen und gingen in die gleiche Universität. Er hat auch nicht überlebt.“ Er meint, ein Bild von seinem Haus gefunden zu haben. Es ist ein riesiges rotes Backsteinhaus mit schönen großen Fenstern. Er ändert seine Meinung. Dieses war nicht sein Haus. Das Haus auf dem Bild hat zwei Stockwerke, seins jedoch hatte nur eins. Er hat wohl keine Bilder seines Hauses mitgebracht. Warum sollte er auch? Er hätte doch nie gedacht, dass er nicht zurückkehren würde.
Mein Großvater, Josef Matz, war, wie alle seine Freunde, ein leidenschaftlicher Zionist. Alle hegten den Traum in das Heilige Land zu ziehen und einen jüdischen Staat zu errichten. Viele der Notizen auf der Rückseite der Bilder bezeugen diesen Traum. „Moshe Golshifsky, 1937 – Behalte mich in Erinnerung. Wir werden uns bald in unserem Land, Erez Jisrael, wiedersehen.“ Leider blieb Großvater mit seinen Erinnerungen alleine zurück, weil Moshe und die anderen ihren Traum nie verwirklichen konnten. Mein Großvater war einer von den Wenigen, die 1937 ein Visum erhielten, um in dem von Briten besetzten Palästina zu studieren. Er packte schnell seine Koffer, nahm ein paar Fotoalben mit und verließ Utena in Litauen, um seinen Traum zu erfüllen. Er hegte die Hoffnung, auch für seinen jüngeren Bruder und seine Schwester je ein Visa zu ergattern, was ihm jedoch nicht gelang.
Brieflich blieb er in steten Kontakt mit seiner Familie. Mit dem Ausbruch des Krieges wurden die Briefe immer weniger, bis sie schließlich ganz aufhörten. So geht es im Krieg. Er würde geduldig bis zum Kriegsende warten und dann die ganze Familie nach Israel bringen. Von alledem, was geschehen war, wusste er nichts. Wie sollte er auch?
Im August 1941 wurden alle Juden der Stadt Utena zusammengetrieben, um in einen Wald zu marschieren. Dort wurden sie geschlagen, entkleidet und einer nach dem anderen erschossen. Ihre Körper fielen in die flache Grube hinter ihnen. Männer, Frauen, Kinder, Junge und Alte. Das war das Ende der Juden in Utena. Das war das Ende seiner ganzen Familie und Freunde. Er war ein Matz. Es gab noch 70 weitere Familienmitglieder mit Namen Matz. Er war der einzige Überlebende. Alles, was von ihnen übriggeblieben ist, sind diese Bilder und ihr verzweifelter Wunsch – „Behalte mich in Erinnerung.“
Erst nach dem Krieg gelang es ihm herauszufinden, was geschehen war. Er hatte gerade geheiratet. Ich schaue auf seine Hochzeitseinladung. Tzvi und Masha Matz (Litva) laden Sie ein, die Hochzeit ihres Sohnes Josef zu feiern. Die Chuppa findet am 21. Dezember 1941 statt. Obwohl Tzvi und Masha nicht da sein werden. Er wusste es nicht. Er konnte es nicht wissen. Er sollte es nicht wissen.
Meine Augen blicken von einer Einladung zur nächsten. Von der einfachen, zerfetzten Einladung meines Großvaters, des Vaters meines Vaters, zu der traditionell weißen, eleganten Einladung meiner lieben Cousine.
Ihre Familie hatte mehr Glück. Sie verließen Europa in Richtung Amerika, einige Jahre vor dem Krieg. Sie mussten Hass, Schrecken und Verlust nie kennen lernen. Sie wurden nicht gefoltert und ermordet, weil sie Juden waren. Diese Seite der Familie lebte und blühte, hatte Kinder und ihre Kinder hatten Kinder. Nun wartet ihre Familie sehnsüchtig auf ihren besonderen Tag: Auf die Einladung, die auf meinem Schreibtisch liegt.
Wir laden Sie ein, den Anfang unseres neuen Lebens miteinander zu teilen ... Samstag, 25. September, Trinity Episcopal Kirche. Der 25. September fällt auf Jom Kippur, den heiligsten Tag des jüdischen Jahres, unser Tag der Versöhnung als jüdisches Volk und als Individium.
Ihre gesamte Familie wird teilnehmen. Ihr Vater wird sie zur Trauung führen. Der Priester wird sie vermählen. Das stört niemanden. Ihre Mutter schwärmt von der Schönheit der Kirche. Meine Cousine hat entschieden, ihre Kinder katholisch zu erziehen. Sie ist nicht religiös, aber ihr Verlobter ist es. Ziemlich religiös sogar und er besteht darauf, dass alle seine Kinder katholisch aufwachsen werden. Ihr ist das egal. Sie wurde, abgesehen vom Weihnachtsbaum, ohne Religion erzogen. Was ihr wichtig ist, dass alle glücklich sind. Wenn sie ihre jüdischen Kinder katholisch aufzieht, so macht ihn das glücklich.
Die Mutter meiner Cousine heiratete einen Nichtjuden. Ihr Onkel heiratete eine Nichtjüdin. Seine beiden Kinder sind keine Juden. Sie und ihr Bruder sind es, aber nur „biologisch“, wie mir mitgeteilt wurde. Wird es ihren Kindern jemals bewusst werden, dass sie jüdisch sind? Nicht, wenn es nach dem Plan ihres Vaters oder dessen Kirche geht.
Sie kann nicht wissen, was sie ihren Kindern vorenthalten wird. Sie hat die Schönheit ihres Erbes, ihres Judentums, ihrer Seele nie kennen gelernt. Dadurch, dass sie kein Wissen besitzt, kann sie auch keines der nächsten Generation weitergeben.
Werden ihre Kinder jemals in den Genuss frischer hausgemachter Challa am Schabbat kommen? Werden sie jemals an Simchat Tora mit der Thora tanzen bis ihre kleinen Füßchen in der Luft schweben? Werden Sie jemals die Möglichkeit haben, in die Tiefen der Tora einzutauchen und ihr Leben spendendes Wasser aufzusaugen und die unendliche Weisheit der Tora zu realisieren? Werden ihre wertvollen Neschamot, ihre jüdischen Seelen, je die Liebe ihres Schöpfers wahrnehmen?
Die Familie meines Großvaters starb mit Gebeten und Preisungen an den Schöpfer auf ihren Lippen. Werden meine Cousine und ihre Kinder jemals dazu in der Lage sein, Ihn zu erkennen, zu Ihm zu beten und Ihn zu loben? Die Antwort muss „Ja“ lauten. Denn ihre Kinder werden eine Neschama, eine jüdische Seele, haben, welche sich ununterbrochen danach sehnt, mit ihrer Quelle wiedervereint zu werden. Das Traurige ist, dass sie eine weite Strecke zurücklegen müssen, um etwas so Nahes zu entdecken – etwas was in ihnen verborgen liegt.
Tzvi und Masha Matz waren leider nicht in der Lage an der Chuppa ihres ältesten Sohnes teilzunehmen. Mein Großvater heiratete ohne Familie, keiner von ihnen feierte mit ihm. Sein erstes Kind, mein Vater, wurde geboren ohne freudige Anteilnahme seiner Familie. Als mein Vater 1942 geboren wurde, wusste mein Großvater immer noch nicht, was mit seiner Familie geschehen war. Er konnte nicht ahnen, wie alleine er war. Keine Mutter mehr, keinen Vater, keine Großmutter, keinen Großvater, keine Schwester, keinen Bruder, keine Tante, keinen Onkel, keine Cousins. „Behalte mich in Erinnerung“, schrieben sie alle. Er versucht es. Ich versuche es.
Ich hoffe, von allen Bildern meines Großvaters eine Kopie anfertigen zu können. Vielleicht wird mir eines der Holocaust-Museen mit ihrer Wiederherstellung behilflich sein. Vielleicht wollen Sie ja einige der einzigen historischen Artefakten jüdischen Lebens in Utena ausstellen. Vielleicht wird er sich noch an ein paar mehr Namen erinnern. Vielleicht kann ja jemand die Inschriften auf der Rückseite der Bilder entschlüsseln. Vielleicht können ja eines Tages meine Kinder, Enkel und Urenkel auf einem Denkmal mehr über ihre Vorfahren herausfinden. Ich kann meinen Teil dazu beitragen, dass ihre Erinnerungen lebendig bleiben, - dass sie nicht einfach alte Bilder irgendwo in einer alten Kiste im Schrank bleiben. Mein Großvater konnte es nicht. Die Erinnerungen schmerzten zu sehr. Aber ich kann es. Ich kann es versuchen.
Und so liegen ihre Bilder auf meinem Schreibtisch. Sie liegen auf dem Rücken und ich blicke auf die Inschriften, die sie alle auf die Rückseite schrieben: „Behalte mich in Erinnerung…“ Direkt daneben befindet sich die Hochzeitseinladung meines Großvaters, und daneben die meiner Cousine. „Bitte geben sie uns schnellstmöglich Bescheid“ heißt es da. Und so schreibe ich: „Rabbi und Frau Crispe werden leider nicht in der Lage sein, zu kommen.“
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