Während eines Abstechers an die Niagarafälle fielen mir große Schilder auf, die es verboten, von den hohen Felsen ins aufgewühlte Wasser der Bucht zu springen. Zunächst überraschte es mich, dass etwas so Offensichtliches gesagt werden musste – wer springt schon von einem zehn Meter hohen Kliff in tosende Wellen, wenn er bei klarem Verstand ist? Aber eine kurze Suche im Internet enthüllte, dass der Sprung von der Felswand sehr beliebt war. Deshalb waren die Warntafeln notwendig.
Ich dachte, diese Warnungen würden ausreichen, um selbst die Tapfersten von dem törichten Sprung abzuhalten. Aber ich irrte mich. Als ich auf einem der überhängenden Felsen saß, sah ich einen Vater mit zwei Kindern, der seinen Sohn im Klippenspringen unterrichtete. Er schien ein vernünftiger Mann zu sein, und in einem Gespräch kam er mir sogar recht spirituell vor. Aber warum brachte er dann seinem Sohn derart gefährliche Dinge bei? Noch ehe ich ihn fragen konnte, demonstrierte er seine Tollkühnheit, indem er selbst sprang. Er brauchte mehrere Minuten, um gegen die Wellen anzukämpfen und zurück zum Ufer zu schwimmen. Aber er war geschickt und schaffte es.
Danach erklärte er mir, das Felsspringen sei seit Jahrzehnten ein Familienhobby und er besuche diesen Ort jedes Jahr genau deswegen. Ihm war klar, dass dies nicht jedermanns Sache war, aber wer sprang, erlebte einen Nervenkitzel, der ihn immer wieder anlockte.
Nun, vorsichtige Leute wie ich werden nie wissen, wie aufregend ein Sprung aus zehn Metern Höhe oder das Schwimmen im aufgewühlten Wasser ist. Ich würde nie wegen eines solchen Abenteuers mein Leben riskieren.
Der spirituelle Sprung
Dennoch wurde ich nachdenklich. Obwohl ich nie von einem Kliff springen würde, habe ich wie alle Menschen einen spirituellen „Felssprung“ hinter mir. Die alten jüdischen Mystiker bezeichneten den Abstieg der Seele vom Himmel zur Erde als radikalen Sprung von einem transzendenten Hochsitz in einen tiefen Abgrund. Natürlich zögert die Seele vor diesem Sprung, aber G-tt ermutigt und begleitet sie.
Der physikalische Sprung ist gefährlich. Man riskiert, sich auf den spitzen Felsen die Knochen zu brechen, wenn man im flachen Wasser landet, oder im tiefen Wasser zu ertrinken. Der spirituelle Sprung ist ebenfalls riskant, weil der Abgrund mit Hindernissen und Herausforderungen gespickt ist. In einer materialistischen Welt besteht die Gefahr, dass die Seele ihre spirituelle Unschuld verliert oder gar von unserer dekadenten Gesellschaft verdorben wird. Dennoch muss die Seele den Sprung wagen, weil sie sonst ihr Schicksal nicht erfüllen kann.
Der Seele ist es nämlich bestimmt, in einer Welt zu leben, die dem G-ttlichen feindselig gegenübersteht, und trotzdem nach g-ttlichen Idealen zu streben. Es gibt viele erhabene Seelen im Himmel; doch G-tt will, dass die Seele in einen zerbrechlichen menschlichen Körper hinabsteigt und in Versuchung gerät, schwach zu werden. Aber sie kann auch ihren freien Willen ausüben und sich für die jüdische Lebensweise entscheiden.
Der eigentliche Sinn
Der Sinn der Schöpfung besteht darin, die Reinheit und den Adel des G-ttlichen in unsere grobe, materialistische Welt zu tragen. Wer hinabspringt und gegen den Strom schwimmt, setzt die Reinheit seiner Seele aufs Spiel. Aber die Seele ist bereit, dieses Risiko einzugehen, weil dies ihr Schicksal ist.
Meine neuen Bekannten, die Familie der Felsspringer, verbrachte den ganzen Nachmittag damit, den Parkwächtern auszuweichen und jeden Sprung genau zu planen. Aber sie fuhren zufrieden nach Hause, weil sie ihre Angst überwunden und etwas Aufregendes erlebt hatten. Wenn wir von unserem spirituellen Felsen springen, machen wir uns ebenfalls Sorgen, weil wir unsere spirituelle Reinheit aufs Spiel setzen. Aber auch wir gehen zufrieden nach Hause, weil wir unser Schicksal und damit den eigentlichen Sinn der Schöpfung erfüllen.
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