In Mainz lebte einst ein junger Gelehrter namens Rabbi Schimon Hagadol. Er war berühmt für seine schönen religiösen Gedichte, Pijutim genannt.
Eines Tages, als er an einem neuen Gedicht arbeitete, kam sein vierjähriger Sohn ins Zimmer und schaute auf das Papier.
„Vater, du hast am Anfang des Gedichts meinen Namen geschrieben.“
„Ja, mein Sohn. Dieser Vers, ‚Elchanan nachalato‘, bedeutet ‚ G-tt ist seinem Erbe gnädig‘. Weißt du, jeder Jude hat einen Anteil an G-ttes Erbe. Wenn er sein Erbe verleugnet und nicht mehr lebt wie ein Jude, hilft G-tt ihm in seiner Gnade auf den richtigen Weg zurück; denn er liebt seine Kinder.“
Eine Träne erschien in den dunklen Augen des Knaben. „Ich werde mein Erbe nie verleugnen“, rief er aus.
Einige Tage später wurde Elchanan krank. Sein Fieber stieg, und er verlor immer wieder das Bewusstsein. Während seine Eltern weinten und für seine Genesung beteten, jammerte auch ihr christliches Kindermädchen, die das Kind ebenfalls liebte. Sie hatte immer gehofft, ihn eines Tages zum Christentum zu bekehren. Jetzt gelobte sie, ihn, wenn er gesund werde, in ein Kloster zu bringen, damit er dort als Christ aufwachse.
An Pessach war der Knabe wieder gesund. Obwohl er noch schwach war, nahm er mit der Familie am Seder teil und stellte sogar die Vier Fragen. Am nächsten Morgen gingen seine Eltern in die Synagoge und ließen ihren Sohn und das Kindermädchen allein. Als sie einige Stunden später zurückkehrten, waren die beiden verschwunden. Rabbi Schimon suchte überall nach ihm, aber niemand hatte sein teures Kind gesehen.
Margaret brachte den Knaben ins Kloster. Da er noch geschwächt war, erkältete er sich, wurde kränker denn je und hatte hohes Fieber. Margaret pflegte ihn treu; doch als er wieder gesund war, hatte er sein Gedächtnis verloren. Als er nach seinen Eltern fragte, sagte man ihm, jemand habe ihn an die Tür des Klosters gelegt. Nach einiger Zeit hörte er auf zu fragen.
Der Junge, der jetzt Felix hieß, war überaus intelligent und wurde bald nach Rom geschickt, wo er schnell Karriere machte. Er wurde Bischof, dann Kardinal. Als Papst Gregor VII. starb, wurde Kardinal Felix zum Papst gewählt und nannte sich Viktor III.
Eines Tages erhielt er eine Bittschrift des Rabbiners von Mainz, der um eine Audienz bat. Die jüdische Gemeinde in Mainz litt unter einem grausamen Dekret, das der antisemitische Klerus durchgesetzt hatte. Nun hoffte der Rabbiner, beim Papst Gerechtigkeit zu finden. Er berichtete von der Not seiner Gemeinde, und der Papst war von der würdevollen Erscheinung des Rabbiners und seinen dunklen, durchdringenden Augen tief berührt und erklärte sich bereit, das Dekret aufzuheben. Am Ende der Audienz lud er den Rabbiner für den nächsten Tag ein, um mit ihm ein religiöses Thema zu erörtern.
Am folgenden Morgen sprach der alte Rabbiner wieder vor, und der Papst begrüßte ihn herzlich. Bald entwickelte sich eine lebhafte und weitreichende Diskussion. Als der Papst hörte, dass der Rabbiner sich für religiöse Dichtung interessierte, bat er um einige Beispiele. Doch als der Rabbiner dem Papst einige Manuskripte reichte, begann er zu weinen.
„Verzeiht mir, Exzellenz, aber diese Gedichte erinnern mich an altes Leid. Wisst Ihr, ich habe einmal ein Gedicht für meinen geliebten Sohn geschrieben, der entführt wurde, als er vier Jahre alt war. Ich trage es immer beim mir.“
Der Papst war gerührt und fragte: „Darf ich es sehen?“ Der Rabbiner gab ihm ein Manuskript, und der Papst entfaltete es behutsam.
Als er die Worte „G-tt ist seinem Erbe gnädig“ las, erbleichte er. „Vater, lieber Vater!“, rief er aus und umarmte den alten Rabbiner.
„Mein Sohn!?“, flüsterte Rabbi Schimon; aber dann verbarg er sein Gesicht in den Händen und sagte: „Wie kann ich dich Sohn nennen? Du bist es nicht mehr!“
„Nein, Vater, hast du mir nicht erklärt, dass G-tt seinen Kindern hilft, wenn sie vom rechten Weg abgekommen sind?“
„Ja, ich erinnere mich. Aber erinnerst du dich auch daran, was du damals versprochen hast?“
„Vater, ich war sehr krank und verlor mein Gedächtnis. Doch jetzt hat der Schock mich geheilt. Vater, ich will zu dir zurückkehren!“
Einige Tage später warteten die Kardinäle auf die Ankunft des Papstes bei einer Messe. Aber er kam nie. Man spekulierte viel darüber, was mit dem Papst geschehen sein mochte. Manche sagten, er sei in den Himmel aufgestiegen. Andere meinten, er habe beschlossen, ein Leben in Armut zu führen, um für die Sünden der Christen zu büßen. Aber niemand hätte sich vorstellen können, dass er ein Leben voller Reichtum und Macht aufgegeben hatte, um zu seinen unterdrückten und verfolgten jüdischen Brüdern zurückzukehren.
ב"ה
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