Der große chassidische Meister Rabbi Israel Baal Schem Tow pflegte jeden Tag viele Stunden lang zu beten. Seine Schüler, die ihre Gebete längst beendet hatten, bildeten einen Kreis um ihn, lauschten der Melodie seiner Gebete und erfreuten ihr Auge am Anblick einer Seele, die in meditativer Versenkung zu ihrem Schöpfer hinaufstieg. Eine ungeschriebene Regel besagte, dass niemand seinen Posten verlassen durfte, ehe der Meister seine Gebete beendete.
Eines Tages wurden sie sehr müde und hungrig. Einer nach dem anderen schlich sich nach Hause, um ein wenig zu essen und zu ruhen. Sie waren überzeugt davon, dass ihr Meister noch mehrere Stunden lang beten würde. Doch als sie zurückkehrten, mussten sie feststellen, dass er während ihrer Abwesenheit aufgehört hatte.
„Sagt uns, Rebbe“, fragten sie, „warum habt Ihr Eure Gebete heute so früh beendet?“
Der Baal Schem Tow antwortete mit einem Gleichnis:
Einmal reiste eine Gruppe von Menschen durch einen Wald. Ihr Leiter, der mit scharfen Augen gesegnet war, erblickte auf einem hohen Baum einen wunderschönen Vogel.
„Kommt“, sagte er zu seinen Gefährten, „ich möchte diesen schönen Vogel einfangen, damit wir uns an seinem Gesang und seinen herrlichen Farben erfreuen können.“
„Aber wie willst du den Vogel fangen?“, fragten die anderen, „Der Baum ist so hoch, und wir sind auf der Erde gefangen.“
„Wenn ihr einander auf die Schultern steigt, „erwiderte der Reiseführer, „dann klettere ich dem obersten Mann auf die Schultern und ergreife den Schatz, der hoch droben funkelt.“
Genau das taten sie. Gemeinsam bildeten sie eine Leiter, die von der Erde zum Himmel reichte, damit ihr Freund das erstrebte Ziel erreichte. Doch bald wurden sie müde und gingen weg, um zu essen und zu ruhen. Da fiel der Mann, der den Vogel gesehen hatte, zu Boden.
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