Rabbi Yossei pflegte zu sagen: ... Vervollkommne dich für das Studium der Tora, denn sie ist dir nicht zum Erbe. (Pirke Avot, 2:12)
Widerspricht damit Rabbi Yossei da nicht der von der Tora selbst geäußerten Aussage, die dem jüdischen Kind, sobald es zu sprechen fähig ist1, beigebracht wird: „Die Tora, welche uns Mosche angeordnet hat, ist das Erbe von Jakovs Gemeinde“?
Die Beziehung des Menschen zur Tora aber wird, wieder in ihren eigenen Worten, in Form von mehreren, verschiedenen Modellen von Eigentümerschaft und Besitz beschrieben:
- Sie ist unser „Erbe“, gemäß dem oben und oft zitierten Vers (Dwarim 33:4).
- Sie ist eine „Erwerbung“, die wir „erstanden“ haben („Ich habe dir eine gute Erwerbung gegeben, Meine Tora, verlass sie nicht“ – Mischle 4:22).
- Sie ist ein „Geschenk“, das uns gewährt wurde („Aus der Wüste, es ist ein Geschenk“ – Bamidbar 21:183).
Diese Analogien zur Beschreibung unserer Beziehung zur Tora sind nicht nur grundsätzlich verschieden, sondern auch in gewisser Hinsicht einander widersprechend. Eine „Erwerbung“ ist etwas, für das bezahlt wird, anders als die Modelle „Erbe“ und „Geschenk“. Das Recht auf ein „Erbe“ wird einzig dadurch bestimmt, wer man ist, eine Eigenschaft, die von „Geschenk“ oder „Erwerbung“ nicht geteilt wird. Und das „Geschenk“ scheint in eine eigene Kategorie zu fallen. Hängt es davon ab, wer man ist? Hängt es davon ab, was man getan hat? Es scheint ein wenig von beidem zu sein, aber keines von beiden gänzlich. Offensichtlich hat man etwas getan um es zu verdienen; aber ein Geschenk wiederum ist definitionsgemäß nichts, wofür bezahlt wird oder was man sich erwirtschaften kann.
Die dreifache Metapher
Ein großer Teil der menschlichen Sprache besteht aus Metaphern. Wir sprechen von einem „tiefen“ Gefühl, einer „hochfliegenden“ Idee oder einem „kalten“ Blick. Offensichtlich beabsichtigen wir dabei nicht, unkörperlichen Dingen physische Eigenschaften zuzuschreiben; wir gebrauchen bloß eine Metapher, ein unentbehrliches Werkzeug wenn wir versuchen, uns das Immaterielle in unserem Leben begreiflich zu machen.
Manchmal jedoch ist eine einzelne Metapher nicht ausreichend. Das Konzept, das wir ausdrücken wollen, ist einfach zu komplex, zu differenziert, als dass es von einem einzelnen Modell, welches Teil unserer konkreten Wirklichkeit ist, repräsentiert werden könnte. In einem solchen Fall nehmen wir zwei oder sogar mehrere Metaphern in Anspruch um unser Argument anzubringen. Jedes Modell wird wegen seiner jeweiligen Eigenschaften verwendet; zusammen ergeben sie ein neues Konzept, das diese verschiedenartigen oder sogar gegensätzlichen Elemente in sich vereinigt. Dies befähigt uns dazu, uns etwas zu vergegenwärtigen, das keine einzelne Entsprechung in unserer Erfahrungswelt hat.
Dasselbe gilt für die Tora. Keine einzelne Erscheinung in unserer Welt kann als Modell dienen, um die Art auszudrücken, wie wir sie „besitzen“. Nur indem wir von ihr als Erbe, Erwerbung und Geschenk sprechen, können wir etwas Einblick in unsere tiefgründige, vielgestaltige Beziehung zur Tora gewinnen.
Wesen und Ausdruck
Auf der grundlegendsten Ebene ist die Tora das ewige Erbe jedes Juden kraft seiner Jüdischkeit. In Bezug auf diesen Aspekt der Tora als „Erbe“ „besitzt“ der vollkommenste Gelehrte nicht mehr als der einfachste Mann aus dem Volk. Zwei Brüder mögen das Vermögen ihres Vaters erben; der erste sei ein bewährter Geschäftsmann, der zweite ein Kleinkind. Da sich ein Erbberechtigter aber vielmehr durch das „Wer“ als das „Wie“ bestimmt, ist das Ausmaß von jemandes Eignung für die Erbschaft oder von jemandes Interesse an ihr gänzlich belanglos.
Dennoch gibt es zugleich noch eine andere Dimension unseres „Eigentums“ an der Tora – eine, auf die der Grundsatz von „du bekommst, wofür du bezahlst“ zutrifft. Es ist wahr, die Tora ist bedingungslos die deine. Es ist wahr, deine „Erbschaft“ ist abhängig davon, wer du bist, und von deiner wesentlichen Bindung an dein Erbe, auch wenn du niemals einen Cent von dem dir anvertrauten „Vermögen“ in Anspruch genommen hast oder dir nicht einmal seiner Existenz bewusst bist. Aber was bedeutet das für dich in praktischer Hinsicht? Wie beeinflusst das dein tägliches Leben? In diesem Sinne gehört dir die Tora dem Ausmaß deines Aufwandes und deiner Hingebung entsprechend – eine „Erwerbung“, erstanden und bezahlt mit Zeit und Mühe. Je mehr du sie studierst und befolgst, desto mehr wirst du dein Erbe bewusst als bedeutungsvolles Element in deinem Leben erfahren, und wie schon Goethe mahnte: „Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“4
Abgemüht und gefunden
Aber die Kombination des Erbe-Erwerbung-Modells beschreibt noch immer nicht ausreichend die Art unserer Beziehung zur Tora. Eine dritte Form von Aneignung, das „Geschenk“, muss auch noch angesprochen werden.
Ein Geschenk scheint oft aus heiterem Himmel zu kommen, ohne die Persönlichkeit des Empfängers oder das Ausmaß seines Aufwandes zu berücksichtigen. Aber es gibt, wie der Talmud argumentiert, tatsächlich kein gänzlich „unverdientes“ Geschenk. Eine Eigenschaft oder Handlung von Seiten des Empfängers muss beim Wohltäter den Wunsch hervorgerufen haben, etwas zu geben: „Bereitete er ihm nicht auf irgendeine Weise Zufriedenheit, hätte er ihm kein Geschenk gewährt.“ Aus diesem Grund treffen viele der Gesetze, die einen Verkauf regeln, auch auf ein Geschenk zu.5
Wenn es jedoch kommt, ist das Geschenk ein wahrer Zu-Fall, gänzlich ohne Verhältnis oder nachvollziehbare Verbindung zum anfänglichen Aufwand. Dasselbe gilt für die Tora: der Lohn für ihr Studium geht unendlich weit über den Rahmen all dessen, was der menschliche Geist möglicherweise an Aufwand leisten kann, hinaus. In den Worten des Talmud:
Sollte dir jemand sagen: „Ich habe mich abgemüht, aber nicht gefunden“ – so glaube ihm nicht; „Ich habe mich nicht abgemüht, aber gefunden“ – so glaube ihm nicht; „ich habe mich abgemüht und gefunden“ – so glaube ihm.6
Die Wahl des Wortes „gefunden“ (statt z.B. „erlangt“) erscheint unangemessen – ein „Finden“ unterstellt einen unverdienten Nutzen, während die Botschaft des Talmud ja gerade der Mühe, und nur der Mühe, zuschreibt etwas Lohnendes hervorzubringen. Aber das ist genau der Punkt: ohne Mühe und Aufwand passiert nichts; aber wenn sich jemand zum vollen Ausmaß seiner Mittel und Begabungen anstrengt, ist das Ergebnis – auch auf der empirischen Ebene – ober- und außerhalb all dessen, was er sich möglicherweise ausgemalt haben mag.7
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