Prolog (nach Talmud Schabbat 88b)
Obwohl er schon über achtzig Jahre alt war, konnte man ihm sein Alter nicht anmerken. Hätte ihn jemand von der Ferne beobachtet, so würde er denken, es sei ein junger Mann, der hier so festen und sicheren Schrittes den Berg erklomm. Doch der Berg war umwölkt, es konnte ihn niemand sehen. Es war dieser Moment gewesen, dem er schon seit Jahren, seit jenem lebensverändernden Erlebnis in der Wüste, entgegen gefiebert hatte. Alle Hürden die er überwunden hatte, alle Schwierigkeiten welche er ertragen hatte, nur für diesen Tag. Konnte ihn jetzt noch jemand aufhalten?
Und plötzlich befand er sich in einer anderen Welt. Seine Sinne waren wie betäubt, er verlor jeglichen Sinn von Raum und Zeit, und es war ihm fast so, als schwebe er in einem schwerelosen Zustand.
Und da sah er sie. Sie kamen gleich in Scharen und umringten ihn von allen Seiten. Sie schienen ihm gar nicht freundlich gesinnt, ja sie schienen ihm den Weg versperren zu wollen. Ihre Augen sprühten Feuer und es gelang ihnen, ihm Angst einzujagen. Sie wandten sich an G-tt und fragten:“ Herr des Universums, was sucht ein Menschensohn hier in unserem Reich?!“
Die unverkennbare Stimme antwortete: „Er ist gekommen, um die Tora zu erhalten.“
Die Engel fragten wieder: „Diesen wertvollsten aller Schätze, den Du bislang bei Dir behalten hast, willst Du Menschen aus Fleisch und Blut schenken?! Gebe doch uns diesen wertvollen Schatz!“
Die Stimme richtete sich an ihn und gebot: „Mosche, antworte ihnen!“
„Aber ich fürchte, sie werden mich verbrennen!“
„Halte Dich an meinem Thron fest und nichts wird Dir geschehen!“
Er hatte nun seine Selbstsicherheit wieder gewonnen und fragte mit fester Stimme: „Herr des Universums! In der Tora, welche Du mir geben willst, heißt es doch: ‚Ich bin Dein G-tt, der Dich aus Ägypten, dem Hause der Sklaverei befreit hat.‘ Wart ihr denn in Ägypten?! Wart ihr denn Sklaven zum Pharao?!
Ferner heißt es in Deiner Tora: ‚Du sollst keine fremden Götter haben!‘ Wohnt ihr denn zwischen anderen Völkern, welche Götzen dienen?!
Ferner heißt es: ‚Erinnere Dich an den Schabbat, ihn zu heiligen!‘ – Verrichtet ihr denn Arbeit, dass ihr am Schabbat ruhen müsst?!
Ferner: ‚Entweihe G-ttes Namen nicht durch einem Meineid!‘ Seid ihr Geschäftsmänner, welche vor Gericht schwören müssen?!
Ferner: ‚Ehre Vater und Mutter!‘ Habt ihr den Vater und Mutter?!
Ferner: ‚Du sollst nicht morden, Du sollst nicht ehebrechen, Du sollst nicht stehlen!‘ Kennt ihr denn Neid, Habt ihr denn einen Jezer Hara (schlechten Trieb)?!“
Sofort erkannten sie, wie recht er hatte und lobten G-tt für seinen Entscheid, die Tora dem Menschen zu geben.
Was hat sich verändert?
Am Schawuot feiern wir die Tatsache, dass uns die Tora zum Geschenk gemacht wurde. So heißt es im Gebet: “Die Zeit, in welcher uns die Tora gegeben wurde“.
Nun stimmt es zwar, dass uns die Zehn Gebote an diesem Tag vor über 3.300 Jahren gegeben wurden, und dennoch muss uns diese Wortwahl ein wenig verwundern. Denn die Anfänge unserer Religion sind viel älter.
Abraham Awinu (unser Vorvater) war nicht nur Begründer des monotheistischen Glaubens, sondern erhielt von G-tt schon das Gebot, sich und seine Kinder zu beschneiden. Außerdem entwickelte Abraham schon einige wichtige Merkmale unserer Religionskultur wie z.B. das Konzept von Gemilut Chassadim (Wohltätigkeit) und Hachnassat Orchim (Gäste beherbergen) u.s.w. Diese Ideen und Lebensweisen wurden dann von Jizchak und Jakob weiterentwickelt. Auch waren sie alle Propheten und hatten direkten Kontakt mit G-tt.
Der Talmud geht einen Schritt weiter und sagt: „Unsere Vorväter haben alle Gesetze der Tora eingehalten, obwohl sie damals noch nicht obligatorisch waren.“ Und an einer anderen Stelle: „Solange unsere Vorväter in Ägypten waren, führten sie ständig eine Jeschiwa (Lernzentrum) in welcher sie die Gebote und Ideen der Tora studierten und wo diese an die nächste Generation weiter vermittelt wurden.“
Es kann deshalb schwer behauptet werden, dass mit den zehn Geboten eine gänzlich neue und unbekannte Lehre auf das jüdische Volk zukam. Es stellt sich nun die Frage, warum wir denn gerade diesen (wenn auch, historisch gesehen, einzigartigen) Moment als „Die Zeit, in welcher uns die Tora gegeben wurde“ ansehen sollen.
Auch ist es schwer zu verstehen, was die Engel von Mosche wollten. Dabei scheint die Antwort von Mosche so überzeugend und einfach, dass es schwer vorstellbar ist, dass die Engel nicht selbst darauf gekommen wären. Außerdem muss man sich fragen, warum es die Engel eigentlich stören sollte, falls auch Menschen die Tora erhalten, studieren und einhalten wollten. Dies müsste doch sicherlich nicht ausschließen, dass auch die Engel die weiterhin Tora besitzen, da wenn von geistigem Eigentum die Rede ist, der Besitz des Einen den eines Anderen nicht ausschließen muss. Vielmehr könnten doch gleichzeitig viele verschiedene Menschen oder Engel versuchen und streben, sich die selben geistige Werte und Ideen anzueignen.
Zwei Welten
Um die Bedeutung dieses Ereignisses ins richtige Licht zu rücken, wollen wir an dieser Stelle eine äußerst bemerkenswerte und wichtige Aussage vom Midrasch zitieren. Der Midrasch sagt, dass vor diesem Moment so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz galt, welches den Kontakt und Austausch zwischen Himmel und Erde, zwischen der geistigen und materiellen Dimension ausschloß. In den Worten des Midrasch: „Haeljonim lo jerdu lemata, wehatachtonim lo jaalu lemaala.“ - Die Höheren sollen nicht herabkommen, die niedrigen sollen nicht heraufsteigen.
All dies änderte sich in dem Moment, als sich die g-ttliche Präsenz auf dem Berg Sinai manifestierte und als Mosche die Einladung erhielt, das himmlische Reich zu betreten, um die Tora zu empfangen.
Bis zu jenem Moment hatte es auch Religion und religiöse Menschen gegeben. Doch eines konnte nie gelingen: Das Geistige und Heilige mit dem Materiellen zu verbinden. Ein Mensch konnte versuchen, sein Leben zu heiligen, indem er sowenig möglich mit dieser Welt zu tun hatte. Indem er sich von dieser Welt absonderte, konnte er sich ein wenig einer anderen Welt nähern. Doch konnte er niemals diese Welt heilig machen. Die zwei Dimensionen sind so grundverschieden in ihrer Natur, dass dies niemals gelingen konnte.
Tatsächlich ist es ein logischer Widerspruch, von einem materiellen Menschen zu sprechen, der das Reich der Engel betritt oder von der g-ttlichen Präsenz zu sprechen, die sich in einem materiellen Sinn manifestiert und erlebt wird.
Was in diesem Moment geschah, war also eine absolute Revolution. Die Tora wurde zum Mittel und Instrument, zwei voneinander Lichtjahre entfernte Galaxien zusammen zu bringen und miteinander zu fusionieren. Dem alltäglichen Geschäftsleben eine geistige Dimension zu verleihen und einer materiellen Welt einen Moralcodex gegeben, der einen himmlischen Ursprung hat, gleichzeitig jedoch fest im Boden der Realität verankert ist, wurde zur Aufgabe der Tora.
Wandel im Management
Die Tora hat viele Dimensionen. Die g-ttliche Offenbarung kann und wird aus jeder Perspektive und in jeder Welt ganz verschieden und anders verstanden. Die Engel wünschten sicherlich nicht eine Tora zu besitzen, die gebietet, Vater und Mutter zu ehren, da sie ganz genau wussten, dass sie mit solchen Begriffen wenig anfangen konnten. Sie wollten diese Konzepte in ihrer geistigen Sinn und Symbolik lernen und leben.
Was sie jedoch nicht verstehen konnten und wollten, war, dass die Tora gegeben wurde, um geistige Barrieren aufzuheben und einen „interkulturellen Austausch“ zu ermöglichen. Sie wollten diese Grenzen klar erhalten sehen und fragten deshalb im Ton größter Entrüstung: “Was sucht ein Menschensohn in unserem Reich?!“
Und es war Mosche, der ihnen erklären musste, dass der tiefste Sinn der Tora erst in einer materiellen Welt erreicht werden kann, wo sie einem von Trieben und Instinkten geleiteten Menschen hilft, den richtigen Weg zu finden.
Künftig würden hauptsächlich diese Menschenkinder über die Tora walten und sie mitbestimmen. Das Gesetz würde nicht vom Himmel auf Erden kommen, sondern würde umgekehrt auf Erden bestimmt und vom Himmel akzeptiert werden. Die „niedrigen“ sollten die Gelegenheit erhalten, aus eigenem Antrieb heraufzusteigen. Die Tora würde ihr „Management Team“ nicht mehr im Himmel, sondern auf Erden haben. In diesem Sinn wurde es die Aufgabe der Toragelehrten aller Zeiten, sich streng an den überlieferten Traditionen richtend, neue Gegebenheiten zu beurteilen und den richtigen Entscheid zu treffen.
Epilog (nach Talmud Bawa Mezia 59b)
1.350 Jahre später. (2. Jahrhundert n. der allgemeinen Zeitrechnung). Der Saal war an jenem Tag zum Bersten voll. Jeder der einen Sitzplatz ergattern konnte, hatte dies schon getan, die Anderen mussten sich mit Stehplätzen begnügen. Ein Tag, welcher wie jeder andere begann, würde einen Ausgang nehmen, den im Moment noch niemand erahnen konnte.
Das Thema der Debatte schien eigentlich recht harmlos. Es ging um einen gewissen Ofen, den ein jüdischer Ofenmacher entwickelt hatte, um die schwierigen rituellen Reinheitsgesetze der Tora zu umgehen. Der Ofen war so konstruiert, dass er niemals unrein werden konnte. Doch ungleich dem Ofenmacher waren die Teilnehmer der Debatte ganz und gar keine gewöhnliche Personen.
Niemand anders wie Rabbi Elieser und Rabbi Jehoschua, zwei der größten Toragelehrten aller Zeiten, hatten sich mit dem Thema befasst und waren zu verschiedenen Entschlüssen gekommen. Nach Rabbi Elieser war es ganz eindeutig, dass der Ofen seinem Ziel gerecht wurde, dass dem ehrgeizigen Ofenmacher ein Coup gelungen war. Rabbi Jehoschua und die meisten anderen Rabbiner waren da ganz anderer Meinung.
Heute würde die große Debatte zu dieser Frage stattfinden und alle warteten gespannt, welche Seite wohl bessere Argumente hervorbringen würde und wie der halachische Entscheid ausfallen würde.
Rabbi Jehoschua, der immer als Vertreter der jüdischen Religion bei interreligiösen Debatten gewählt wurde, weil er so gut zu argumentieren wusste, gelang es, die meisten Anwesenden von der Richtigkeit seiner Ansicht zu überzeugen.
Doch Rabbi Elieser beharrte auf seinem Standpunkt. Und als er bemerkte, dass mit herkömmlichen Mitteln wenig zu erreichen war, griff er zu solchen Mitteln, wie sie in einer halachischen Debatte noch nie angewandt geworden waren.
Plötzlich sagte er: „Falls ich recht habe, soll dieser Baum es beweisen!“ Und siehe da, der Baum machte einen Sprung von fünfzig Metern (andere sagen 200 Metern)!
Da sagten sie ihm: „Von einem Baum bringen wir keine Beweise!“
Er sagte wieder: „Falls die Halacha auf meiner Seite ist, soll dieses Bächlein es beweisen!“ das Bächlein begann, aufwärts zu fliessen!
Wieder sagten sie: „Von einem Bächlein bringen wir hier keine Beweise!“
Nun sagte er: „Die Wände dieses Lehrsaals sollen doch beweisen, dass ich recht habe!“ Die Mauern neigten sich gefährlich nahe in Richtung Saalmitte!
Da schrie Rabbi Jehoschua und sagte: „Wenn Toragelehrte eine Diskussion haben, sollt ihr euch nicht einmischen!!“ Die Wände hörten auf, einzustürzen, um Rabbi Jehoschua zu ehren, stellten sich aber auch nicht wieder auf, wegen der Ehre von Rabbi Elieser!
Nun griff Rabbi Elieser zu seinem letzten Mittel, einem Mittel von dem er überzeugt war, dass Rabbi Jehoschua ihm nichts entgegen stellen konnte.
„Vom Himmel soll bewiesen werden, dass das Recht auf meiner Seite ist!“ Und ein Bat Kol (himmlische Stimme) ertönte: „Was wollt ihr von Rabbi Elieser, die Halacha steht immer auf seiner Seite!“
Eine betroffene Stille, ja eine tastbare Stille verwandelte den Saal.
Rabbi Jehoschua stand auf und jedes Herz im Saal vermisste einen Schlag. „Die Tora ist nicht im Himmel! Wir missachten die himmlische Stimme, denn Du hast in Deiner Tora geschrieben: ‘Nach der Mehrheit soll man sich richten.‘
Einige Zeit später traf Rabbi Natan Elijahu den Propheten und fragte ihn: „Wie hat G-tt auf die Worte von Rabbi Jehoschua reagiert?“ Elijahu antwortete: „Er lächelte und sagte: ‚Sie haben mich besiegt. Meine Kinder haben mich besiegt.‘“
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