XVI. Das Fest Sukkot folgt auf die Awoda der Aseret Jemej Teschuwa. Das bedeutet, dass alle Auswirkungen der Aseret Jemej Teschuwa an Sukkot in einem Zustand von Simcha (Freude) auftreten.1
Zu den Aseret Jemej Teschuwa gehören die beiden Tage von Rosch haSchana, der Tag von Jom Kippur und die sieben Tage zwischen Rosch haSchana und Jom Kippur. Alle diese drei Zeiträume sind mit Sukkot verbunden:
1. Rosch haSchana: Der hebräische Begriff Sechach (die Bedeckung des Daches der Sukka mit bestimmten Pflanzenteilen) besteht aus den drei Buchstaben Samech, Chaf und einem weiteren Chaf. Diese Buchstaben beziehen sich auf die Samech (60) Töne von Tekia, Chaf (20) Töne von Schewarim und Chaf (20) Töne von Terua, die insgesamt den 100 Tönen des Schofar an Rosch haSchana entsprechen.2
2. Jom Kippur: Der wichtigste Teil der Awoda von Jom Kippur ist die „Wolke des Räucherwerks.“3 Chassidut4 erklärt, dass die „Wolke des Räucherwerks“ die „Wolken der Herrlichkeit“ bewirkt, die der Bedeutung von Sukkot (Hütten) entsprechen.5
3. Die „Sieben Tage“: Die sieben Tage zwischen Rosch haSchana und Jom Kippur umfassen jeden einzelnen der sieben Wochentage (Sonntag, Montag usw.). Der Sonntag dieser sieben Tage soll alle Sonntage des Jahres korrigieren, der Montag alle Montage des Jahres und so weiter.6 Diese sieben Tage von Aseret Jemej Teschuwa werden dann mit Freude in die sieben Tage von Sukkot hineingezogen, aus denen man Freude für jeden der Wochentage des folgenden Jahres schöpft.
XVII. Auf den ersten Blick könnte man argumentieren, dass es nicht sieben volle Tage der Simcha gibt: Nisuch haMajim (das Wasser-Gussopfer) begann erst am Morgen des ersten Tages von Sukkot, als sie das Tamid Schel Schachar (tägliches Opfer, das am Morgen gebracht wird) darbrachten.7 Die erste Nacht ist daher nicht eingeschlossen.
In Wahrheit ist dies jedoch kein Problem, und zwar aus zwei Gründen: a) Die Simcha von Sukkot ist mit der Mizwa von Lulaw verbunden, die mit der ersten Nacht wirksam wird, von dem Moment an, in dem der Feiertag beginnt.8 b) Sogar in Bezug auf die Wasser-Gussopfer stellt Jeruschalmi9 fest, dass, wenn diese zufällig in der Nacht durchgeführt wurden, sogar in der ersten Nacht, in der noch keine Opfer dargebracht worden waren, sie post factum (im Nachhinein) gültig sind. Daraus folgt, dass die Simcha bereits in der Nacht beginnt und es sieben volle Tage der Simcha gibt.
XVIII. Nisuch haMajim (das Wasser-Gussopfer) ist [post factum] nachts gültig, weil seine Verpflichtungen nicht mit dem Opfer an sich, sondern mit dem Fest [Sukkot] verbunden sind.10 Das ist der Unterschied zwischen den Wein-Gussopfern und den Wasser-Gussopfern: Erstere sind mit den Opfern verbunden,11 müssen also am Tag stattfinden,12 während letztere mit dem Fest an sich verbunden sind.
Allerdings sind auch die Wasser-Gussopfer mit dem Opfer verbunden: Nach der Tossefta kann das Prinzip von Pigul für Nisuch haMajim gelten.13 Dennoch ist es nicht an die Zeit der Darbringung des Opfers gebunden.
Dieser Unterschied zwischen den Wein-Gussopfern und den Wasser-Gussopfern bedarf der Klärung. Denn beide sind von ein und demselben Vers abgeleitet: „und seine Gussopfer“14 – und zwar im Plural.15 Warum sollten also die Wein-Gussopfer an das Opfer gebunden sein und nur am Tag stattfinden, während die Wasser-Gussopfer an das Fest gebunden und auch in der Nacht gültig sind?
XIX. Die Tora wird mit einem Menschen verglichen, wie es geschrieben steht: „Sot haTora – Adam.“16
Der Mensch hat einen Körper und eine Seele, wobei die Seele in allen Teilen des Körpers ist und sie belebt. Auch die Tora hat einen „Körper“, d. h. die offenbarte Dimension (Nigle) der Tora, und die „Seele“ der Tora ist die verborgene innere Dimension der Tora.17 Die innere Dimension (Pnimijut haTora) ist in allen Teilen der offenbarten Dimension (Nigle), in jeder Halacha (Rechtsvorschrift) und jedem Thema. Sie ist die Lebenskraft von Nigle.
Es gibt also eine große Anzahl von Themen im Nigle, die ihren „Seelenaspekt“ deutlich zeigen, und sie können nur anhand ihrer inneren Dimension verstanden werden.
Unser Thema, das wir oben besprochen haben, wird auch im Zusammenhang mit seiner inneren Dimension und Seele verstanden werden:
XX. Wein unterscheidet sich von Wasser.
Wein hat einen Geschmack, während Wasser an sich keinen hat. Wenn man Wein trinkt, muss man daher immer einen Segensspruch sprechen, weil man seinen Geschmack kostet. Bei Wasser hingegen spricht man nur dann einen Segensspruch, wenn man es trinkt, um den Durst zu stillen,18 denn nur dann empfindet man es als schmackhaft.
Die Aspekte von Wein und Wasser beziehen sich auch auf die Seele. Eine Awoda (Dienst an G-tt), die auf Vernunft und Verstand beruht, ist analog zum Wein: Sie hat „Geschmack.“ Eine Awoda, die auf einfachem Kabbalat Ol beruht, ist mit Wasser vergleichbar, weil sie von sich aus keinen „Geschmack“ hat.19
Kabbalat Ol hat für sich genommen keinen „Geschmack“ oder Genuss. Dennoch gilt die Regel, dass „jemand, der Wasser trinkt, um seinen Durst zu stillen, einen Segensspruch sprechen muss“ – weil der Durst das Wasser schmackhaft macht – auch in Bezug auf Kabbalat Ol:
Wenn ein Mensch das Konzept seiner Seele betrachtet, die auf die Erde hinabsteigt – „von einem erhabenen Gipfel in eine tiefe Grube“ –, wird er die Wahrheit seines Status erkennen. Wie groß er auch intellektuell sein mag, es ist nicht von Bedeutung, wenn man es mit dem ursprünglichen Status seiner Seele vor ihrem Abstieg vergleicht, und „Dein Fortgehen aus der Welt möge deinem Kommen in die Welt gleichen.“20 Diese Erkenntnis wird in ihm einen Durst und eine Sehnsucht nach der G-ttlichkeit hervorrufen, die das Gefühl der Selbstverneinung erzeugt, das im Konzept von Kabbalat Ol enthalten ist. Durch diesen Durst wird Kabbalat Ol also schmackhaft und lebendig.
[Das ist der tiefere Sinn von „Wenn man Wasser trinkt, um den Durst zu stillen, spricht man den Segensspruch: ‚... durch dessen Wort alles entstanden ist‘“: Im Zustand von Durst und Kabbalat Ol spürt man in „allem“, auch in dieser physischen und materiellen Welt, dass es „durch Sein Wort entstanden ist.“ Der Alte Rebbe drückte sich einmal so aus,21 dass er nur „die aktivierende Kraft, die der Wirkung innewohnt“, sieht.22 Das kann man sogar in der Zeit der Galut spüren.]
In der Tat ist die „Schmackhaftigkeit“ und Freude an Kabbalat Ol noch größer als die Freude am Verstehen. Letztere ist im Verhältnis zum Grad des Verstehens begrenzt. Die Freude an Kabbalat Ol ist jedoch unbegrenzt.
Die ultimative Freude wurde daher speziell bei den Wasser-Gussopfern erlebt, und zwar so groß, dass „derjenige, der den Jubel beim Wasserschöpfen nicht gesehen hat, nie Jubel gesehen hat.“23
XXI. Dies erklärt, warum die Wein-Gussopfer an die Opferverpflichtungen und die Wasser-Gussopfer an die Verpflichtungen des Festes gebunden sind. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Opfer und dem Fest an sich:
Ein Opfer ist mit der Awoda des Menschen verbunden. Der Mensch bringt ein Opfer dar. Deshalb gibt es bei Opfern verschiedene Stufen, wie zum Beispiel, dass „Frauen ... von der Abgabe des halben Schekels befreit sind“24, der für Gemeinschaftsopfer verwendet wurde.
Ein Fest hat seinen Ursprung Oben, es ist „bereits geheiligt und bleibt in diesem Status so bestehen.“ [Zwar hängt die Bestimmung des Neumondes vom Bet Din ab;25 aber sobald der Bet Din den Monatsanfang bestimmt hat, ist der fünfzehnte Tag (von Tischrej) per se (der erste Tag) des Festes Sukkot.] Hier gibt es keine unterschiedlichen Stufen, und es gilt für alle gleichermaßen.
Der Wein, der für Vernunft und Verstand steht, bezieht sich also auf die Opfergaben. Wasser hingegen, das für Kabbalat Ol steht, bezieht sich auf den Tag des Festes. Denn eine Awoda, die auf Vernunft und Verstand beruht, steht in Beziehung zum individuellen Verständnis und unterliegt daher, genau wie die Opfer, verschiedenen Stufen. Eine Awoda, die auf Kabbalat Ol beruht, ist jedoch nicht individuell. Der persönliche Status ist irrelevant, denn es gibt keine Rücksicht auf den eigenen Verstand oder die eigenen Gefühle – ob er es versteht oder nicht, ob er es fühlt oder nicht. Man lässt sein eigenes Selbst vollständig außer Acht, und es gibt eine einfache Akzeptanz des „Jochs der Herrschaft des Himmels.“ Es gibt keine unterschiedlichen Stufen. Es ist wie bei einem Fest, bei dem der persönliche Status und Zustand keine Rolle spielen, und es ist von Anfang an heilig, wenn der Tag des Festes beginnt.
XXII. Im Zusammenhang mit dem oben Gesagten mussten die Wein-Gussopfer also speziell am Tag stattfinden, während die Wasser-Gussopfer auch in der Nacht erfolgen konnten:
Eine Awoda, die auf Vernunft beruht, ist nur möglich, wenn es „Licht“ im Geist gibt, wenn man richtig versteht und fühlt. Nur in einem solchen Zustand kann man G-tt mit „rationalen Überlegungen“ dienen. Eine Awoda von Kabbalat Ol ist jedoch auch zur Nachtzeit möglich, selbst wenn noch kein Licht in ihm leuchtet: Er lässt alles außer Acht und nimmt das Joch der G-ttlichen Herrschaft auf sich.
XXIII. Daraus folgt, dass die Wasser-Gussopfer vor den Wein-Gussopfern kommen. Die Wasser-Gussopfer gelten unmittelbar in der ersten Nacht von Sukkot, während die Wein-Gussopfer erst am nächsten Morgen beginnen.
Die spirituelle Konsequenz daraus ist folgende:
Kabbalat Ol allein ist unzureichend. Es muss eine Anstrengung unternommen werden, damit der Geist die Notwendigkeit versteht, G-tt zu dienen. Schließlich steht geschrieben, dass „alles Chelew (Fett) für den Ewigen ist“26, d. h., dass das Beste von allem G-tt gegeben werden soll;27 und der Mensch hat nichts Besseres und Wertvolleres als den Intellekt. Also muss man auch den Verstand der G-ttlichkeit unterwerfen.
Das bedeutet nicht, dass die Einhaltung von Mizwot auf dem eigenen Verstand beruhen soll. Im Gegenteil: Kabbalat Ol ist die eigentliche Grundlage der Awoda, und das anfängliche Kabbalat Ol ermöglicht dann das rationale Verstehen.
„Wenn der Heilige, gesegnet sei Er, ihm nicht helfen würde, wäre der Mensch nicht in der Lage, [dem Jezer haRa] zu widerstehen.“28 Man ist auf G-ttlichen Beistand angewiesen, der aber ohne Kabbalat Ol nicht zu erlangen ist. Daraus folgt, dass das Fehlen von Kabbalat Ol den Menschen einem übermächtigen Jezer haRa aussetzt, der wiederum ein rationales Verstehen ausschließt.
Dieses Prinzip zeigt sich bei der Übergabe der Tora, die damit begann, dass Israel zunächst sagte: „Wir werden tun“ und erst danach „Wir werden hören (verstehen lernen).“29 Darin liegt die eigentliche Bedeutung von Kabbalat Ol; denn damals wussten sie noch nichts über den Inhalt der Tora, konnten also unmöglich etwas davon verstehen oder sich daran erfreuen. Sie nahmen die Tora in einem Zustand von Kabbalat Ol an.
Der gleiche Gedanke gilt auch für die Awoda eines jeden Einzelnen, wie es heißt: „Warum wurde der Abschnitt des Schma vor den des Wehaja gesetzt? Damit man zuerst das Ol (Joch) der Herrschaft des Himmels auf sich nimmt und dann das Ol der Mizwot.“30 Die Betonung liegt hier auf dem Wort Ol, Joch, etwas, das keine Freude bereitet. Der Alte Rebbe führt daher im Tanja31 aus, dass man „wie der Ochse sein muss, dem man zuerst ein Joch auflegt ... und wenn man dies [die Unterwerfung unter das Joch] nicht in ihm findet ...“, kann er nicht einmal die Awoda haben, die mit der Vernunft verbunden ist.
Dies erklärt Rawas Antwort auf den Spott des Sadduzäers: „Ihr seid ein ungestümes Volk, weil ihr eurem Mund Vorrang vor euren Ohren einräumt.“32 Rawa antwortete ihm, dass „die Integrität des Aufrichtigen“ – d. h., die Integrität des jüdischen Volkes, das dem Wir werden tun Vorrang vor dem Wir werden hören einräumt – „sie leiten wird“, so dass am Ende auch die Vernunft zum Zuge kommt; „aber die Verkehrtheit der Verräter“ – d. h., das Beharren darauf, nur der Vernunft zu folgen – „wird sie zerstören“33, so dass sie am Ende auch die Vernunft verlieren werden.
Kabbalat Ol ist die Grundlage der Awoda. Dennoch muss auch der Intellekt der G-ttlichkeit unterworfen werden. Eine Awoda des rationalen Begreifens kann sich jedoch erst nach einem anfänglichen Kabbalat Ol entwickeln. Deshalb ist das Wasser-Gussopfer (Nisuch haMajim) das erste [an Sukkot], das von Beginn des Festes an gilt, und erst danach kann – und muss – man die Awoda des rationalen Verstehens, d. h. Nisuch haJajin (das Wein-Gussopfer), vornehmen.
XXIV. Rambam bietet in seinem Kommentar zur Mischna34 einen Grund für die Regelung an, dass man einen Eruw mit allen Arten von Lebensmitteln außer Wasser durchführen kann: Ein Eruw erfordert etwas, das nährt, was auf Wasser nicht zutrifft; Wasser ermöglicht es lediglich, dass die Nahrung in alle Teile des Körpers gelangt.
Ebenso verhält es sich mit Kabbalat Ol, das analog zum Wasser ist: Es hat selbst keinen Geschmack, es ist nicht nahrhaft, aber es ist das Mittel, um ein rationales Verstehen zu erreichen.
XXV. So wie die Art und Weise von Kabbalat Ol zum rationalen Verstehen beiträgt, so trägt auch die Freude, die sich aus Kabbalat Ol ergibt, zur Freude des rationalen Verstehens bei. Deshalb gibt es während der gesamten Dauer von Sukkot Freude.35 Dies wird in der Gemara in der Formulierung deutlich, dass „wir den Geschmack des Schlafes nicht genossen haben“36, was sich auch auf die Zeit des Wein-Gussopfers bezieht.
Wenn man schläft, ist man einem Tier ähnlich. Die Awoda von Kabbalat Ol vertreibt jedoch den Schlaf – sogar während der Zeit des Wein-Gussopfers – während der sieben Tage von Sukkot und durch diese auch während der sieben Tage jeder Woche während des ganzen Jahres.37 Das bedeutet, dass es keinen „Schlaf“ in allen Zeiten und Formen geben wird, so dass es so sein wird, dass „du dem Ewigen, deinem G-tt, mit Freude und Wonne des Herzens aus einer Fülle von allem dienen wirst.“38
XXVI. Im Zusammenhang mit dem oben Gesagten können wir nun die Aussage in der Mischna verstehen, dass dem Kohen, der das Wasser-Gussopfer vornahm, gesagt wurde: „Hebe deine Hand!“ Denn bei einer früheren Gelegenheit war dieser Kohen zufällig ein Sadduzäer, der sich das Wasser über die Füße schüttete – denn die Sadduzäer leugneten die Verpflichtung zum Wasser-Gussopfer – und das ganze Volk bewarf ihn daraufhin mit ihren Etrogim.39 [Rambam erklärt,40 dass das Prinzip des Wasser-Gussopfers nicht ausdrücklich in der Tora erwähnt wird, sondern nur durch eine Anspielung,41 aus der unsere Weisen die Verpflichtung zu Nisuch haMajim ableiteten;42 und die Sadduzäer leugneten die Tora Schebe-al Pe (mündliche Tora)]. Seitdem ist es üblich, dass derjenige, der das Gussopfer vollzieht, aufgefordert wird: „Hebe deine Hand!“, um sicherzustellen, dass das Wasser in die entsprechende Schale gegossen wird.
Dieser Grundsatz wirft eine Reihe von Fragen auf: a) Wenn die Sadduzäer den Grundsatz des Wasser-Gussopfers leugnen, hätte dieser Kohen gar nicht ausgießen dürfen; warum hat er dann das Wasser über seine Füße gegossen? b) Warum hat ihn das ganze Volk beworfen? Wenn jemand den Tempeldienst verändert, erleidet er „den Tod durch die Hand des Himmels“43, oder er unterliegt der Regel, dass „die Eifernden ihn angreifen dürfen.“44 Warum wurde er dann von „dem ganzen Volk“ beworfen? c) Warum wurde er speziell mit ihren Etrogim beworfen?
Die Diskussion über Nisuch haMajim klärt all diese Fragen:
XXVII. Die Sadduzäer stützten sich auf die Idee, dass die Tora rational angegangen werden muss. Deshalb lehnten sie die Überlieferung unserer Weisen ab. In Wahrheit aber „empfing Mosche die Tora am Berg Sinai und gab sie an Jehoschua weiter ...“45, so dass man über keine halachische Entscheidung im Schulchan Aruch oder einem anderen maßgeblichen Text abfällig denken kann. Sicherlich muss man sich bemühen, so viel wie möglich zu verstehen; aber man muss die vorgeschriebenen Regeln auch dann befolgen, wenn man sie nicht versteht. Die Sadduzäer hingegen argumentierten, dass die Tora „nicht im Himmel ist“46 und daher jeder sie nach seinem eigenen Verständnis auslegen könne.
Die Sadduzäer akzeptierten also das Wein-Gussopfer, das für Verständnis und Einsicht steht, lehnten aber das Wasser-Gussopfer ab, das für Kabbalat Ol steht. Sie waren sich einig, dass die Unwissenden und auch die Geschäftsleute, deren Geist mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt ist und nicht mit der Tora, die vorgeschriebenen Anweisungen befolgen müssen. Die Sadduzäer waren der Meinung, dass diejenigen, die die Anweisungen erteilen, also diejenigen, die sich mit der Tora befassen, sich nicht den Traditionen der Weisen unterwerfen müssen, weil sie sich mit der Tora beschäftigen. Ihrer Meinung nach entspräche dies dem Grundsatz: „Die Schrift vergleicht drei ‚Unbedeutende der Welt‘ mit drei Bedeutenden47, um dir zu sagen:, Jiftach in seinem Zeitalter (war so) wie Schmuel in seinem Zeitalter“48, und die Tora „ist nicht im Himmel.“
Deshalb schüttete der Sadduzäer das Wasser über seine Füße. Seine Einstellung war, dass er als Kohen im Heiligtum, der G-tt dient, kein Kabbalat Ol braucht. Andererseits goss er das Wasser über seine Füße, um anzuzeigen, dass er eine Quelle für Anweisungen ist, die von den „600.000 Männern zu Fuß aus dem Volk“ in Form von Kabbalat Ol angenommen werden sollten.49
[Das Gleiche gilt in Bezug auf jeden Einzelnen, wenn er zwar Angelegenheiten, die sich auf die „Füße“ beziehen, in einem Zustand von Kabbalat Ol annimmt, und Angelegenheiten, die sich auf den Verstand und das Herz beziehen, persönlichen Gefühlen unterwirft, und nicht Kabbalat Ol.]
XXVIII. Aus diesem Grund „stürzte sich das ganze Volk auf ihn“, d. h. die einfachen Leute im Gegensatz zu den Kohanim. Diejenigen, die mit intellektuellen Fähigkeiten gesegnet sind, mögen ihre Awoda auf Kabbalat Ol stützen. Da sie jedoch Intellektuelle sind, sind sie nicht übermäßig empfänglich für die Tatsache, dass die Vernunft allein unzureichend ist, und daher werden sie ein Problem haben, wenn sie an dem Argument festhalten, dass es keine Notwendigkeit für Kabbalat Ol gibt und dass die Vernunft allein ausreicht. Die einfachen Leute jedoch, wenn sie das Ansinnen hören, dass es keine Notwendigkeit für Kabbalat Ol gibt, spüren sofort, dass diese Art der Einstellung dem G-ttlichen Willen zuwiderläuft.
An anderer Stelle50 wird erklärt, dass die Kraft von Mesirat Nefesch in der Zeit der Galut stärker hervortritt als in der Zeit des Bet haMikdasch. Denn aufgrund der Manifestation der G-ttlichkeit in der Zeit des Bet haMikdasch, einer Zeit des „Wenn ihr in Meinen Vorschriften gehen werdet ... werde Ich euch den Regen zu seiner Zeit geben ...“51, gab es keinen so großen Bedarf an Mesirat Nefesch. Doch sowohl in der Zeit des Bet haMikdasch als auch in der Zeit der Galut leuchtet die Kraft von Mesirat Nefesch bei den einfachen Leuten viel stärker auf als bei den Intellektuellen.52
XXIX. Warum bewarfen ihn die Leute mit ihren Etrogim?
Der Etrog ist die prominenteste der Vier Arten [Etrog, Lulaw, Myrte und Weidenzweige], weil der Etrog sowohl einen guten Geschmack als auch einen guten Duft hat.53 Sein entsprechender Aspekt in den Seelenkräften ist der Intellekt, denn der Intellekt ist die höchste der Seelenkräfte. Deshalb bewarfen alle Leute den Sadduzäer mit ihren Etrogim: Sie reagierten auf seine Verirrung mit ihren Etrogim, um zu zeigen, dass sie sogar mit ihrem Verstand und ihrer Wahrnehmung erkannten, dass sein Vorgehen dem G-ttlichen Willen widerspricht. Denn bei einem Menschen, der dem Kabbalat Ol verpflichtet ist, folgen auch sein Verstand und seine persönliche Freude dem, was Kabbalat Ol vorschreibt.
Der Rebbe, mein Schwiegervater, erzählte, dass es einmal ein Feuer in der Stadt Lubawitsch gab und ein Einzelner sich an eine sehr enge Stelle flüchtete, von der er später nicht mehr wegkam.
Wenn diese Stelle aber so klein war, wie konnte er sie dann betreten, wo es doch heißt: „So wie es eingesogen wird, so wird es wieder abgestoßen?“54 Tatsächlich aber bewirkte der starke Überlebenswille dieses Menschen eine Kontraktion seines Fleisches, die es ihm ermöglichte, hineinzukommen.
Wenn es also möglich ist, dass der eigene Wille den Körper beeinflusst, wie viel mehr kann er den Geist beeinflussen.
Dieses Prinzip ist bei der Bestechung offensichtlich: Der Wille des Menschen bewirkt eine bestimmte Tendenz auch in der Begründung von Urteilen.55
XXX. Wir können nun die Folge dieses Ereignisses verstehen, wie es in der Gemara heißt:56 „An jenem Tag wurde das Horn des Altars beschädigt und sie brachten ein Stück Salz, um es zu stopfen.“
Auf dem Altar wurden das Fett und das Blut der Opfer dargebracht, d. h. die besten Teile. Wenn man ein Opfer darbrachte, musste man bedenken, dass alles, was man dem Tier angetan hatte, eigentlich einem selbst hätte angetan werden sollen.57 Der entsprechende Aspekt des Altars in der Awoda der menschlichen Seele ist das Prinzip, alle seine latenten Fähigkeiten – wie den Intellekt – der G-ttlichkeit zu unterwerfen.
Das Messer, das für die Schechita verwendet wird und das Fleisch für den Verzehr erlaubt macht, darf nicht eingekerbt sein.58 Ähnlich verhält es sich mit dem Altar, auf dem Erhabenes geopfert wird: Auch er darf nicht eingekerbt sein oder einen Makel aufweisen.59 [Tatsächlich leiten sich diese Disqualifikationen durch eine Kerbe voneinander ab.60 ] Eine Kerbe im Altar bedeutet einen Makel an ihm und somit auch an den Opfern.
Dies war also die Antwort auf den Sadduzäer, der argumentierte, dass die Vernunft ausreicht und es keinen Kabbalat Ol braucht. Sie zeigten ihm einen Makel am Altar – was einen Makel an Kabbalat Ol bedeutet –, weswegen die Opfer (d. h. die Vernunft) mangelhaft sind.
XXXI. Die Gemara berichtet weiter, dass der Makel des Altars mit Salz behoben wurde. Daraus ergibt sich die folgende Lektion:
Die Regelung in der zuvor zitierten Mischna,61 dass man einen Eruw mit allen Arten von Lebensmitteln außer Wasser durchführen darf, schließt auch Salz aus. Salz ist aus demselben Grund wie Wasser ausgeschlossen, nämlich weil es kein nahrhaftes Lebensmittel ist.
Im Zusammenhang mit Awoda bedeutet Salz das Studium von Pnimijut haTora,62 mit Vertrauen in die Weisen der früheren Zeiten, ungeachtet der Tatsache, dass man seinen Inhalt nicht in dem Maße versteht, wie man den Inhalt von Nigle verstehen kann – und muss. Denn wie man63 vom „Chomton – dem Salzsand“64 sagt, ist es die eine Substanz, die alle sechs Ordnungen des Talmud mit Energie versorgt. Sie korrigiert und bewirkt die Beseitigung aller Hindernisse und Hemmnisse des Geistes, die die Wahrnehmung der Wahrheit verhindern. Das neue Jahr wird also gut und gesegnet sein in allen Belangen von Tora und Mizwot, was wiederum das „Ich werde euch den Regen zu seiner Zeit geben“ bewirken wird.
(Adaptiert aus einer Sicha gehalten an Simchat Bet haScho-ewa 5715)
Diskutieren Sie mit