VIII. Der Talmud sagt über Simchat Bet haScho-ewa: „Wer den Jubel von Simchat Bet haScho-ewa nicht gesehen hat, hat in seinem Leben noch nie Jubel gesehen.“1 Im Klartext drückt diese Aussage das Ausmaß dieser Freude aus, so dass im Vergleich zu Simchat Bet haScho-ewa alle anderen Ausdrucksformen der Freude nicht als Jubel bezeichnet werden können. Dies wird durch die Worte „Wer den Jubel von Simchat Bet haScho-ewa nicht gesehen hat“ angedeutet: Er hat zwar andere Ausdrucksformen der Freude gesehen, aber dennoch – „er hat in seinem Leben noch nie Jubel gesehen.“

Die Worte unserer Weisen sind sehr präzise. Wenn sie also die einzigartige Größe von Simchat Bet haScho-ewa zum Ausdruck bringen wollten, hätten sie dies direkter und mit größerer Kürze in einer positiven Aussage tun können, wie „Der Jubel von Simchat Bet haScho-ewa war der größte von allen“. Warum haben sie sich dann negativ ausgedrückt: „Wer nicht ... hat, hat nie gesehen ...“?

Außerdem, was für einen Unterschied macht dieser Vergleich, und besonders heutzutage?

Der Talmud bietet uns jedoch einen Leitfaden für die Awoda. Man mag glauben, ein freudiges Ereignis gesehen und tatsächlich daran teilgenommen zu haben; aber wenn man den Jubel von Simchat Bet haScho-ewa nicht gesehen hat, war seine Erfahrung nur oberflächlich. In Wahrheit hat er keinen Jubel gesehen, denn da er Simchat Bet haScho-ewa nicht gesehen hat, kann er keinen wirklichen Jubel sehen. Das ist also die Bedeutung der Formulierung „Wer den Jubel von Simchat Bet haScho-ewa nicht gesehen hat, hat in seinem Leben noch nie Jubel gesehen.“

IX. Simcha, Freude, bedeutet, dass man über Beschränkungen hinausgeht. Wir sehen also, dass jemand, der wirklich glücklich und fröhlich ist, Dinge tut, die über die gesetzmäßigen Beschränkungen seines Geistes hinausgehen.2

Auch die Ursache der Simcha übersteigt die Beschränkungen der Person. Es ist klar, dass eine Wirkung erst nach ihrer Ursache eintritt. Wenn also die Wirkung (der Jubel) über die Beschränkungen hinausgeht, folgt daraus, dass auch die Ursache des Jubels über die Beschränkungen hinausgeht. Mit anderen Worten: Es ist etwas völlig Unerwartetes geschehen, etwas, das die rationale Erwartung des Menschen übersteigt, und deshalb ruft es eine ebenso überragende – ungebremste – Wirkung hervor, nämlich den Zustand der Freude. Genau aus diesem Grund heißt es: „Simcha durchbricht Barrieren, die einen umschließen.“3

„Wie das Wasser das Angesicht des Menschen widerspiegelt, so spiegelt auch das Herz des Menschen (Adam haEljon) den Menschen wider.“4 Der Baal Schem Tow interpretierte den Vers „G-tt ist dein Schatten ...“:5 So wie der Schatten alle Bewegungen eines Menschen widerspiegelt, so ist auch G-tt dein Schatten.6 Dies ist das Konzept von „Mit dem Maß, mit dem ein Mensch misst, misst man ihn.“7

Der Mensch wird Adam genannt. In Schenej Luchot haBerit (Schelah)8 wird erklärt, dass der Begriff Adam sprachlich mit „Edame leEljon – Ich will dem Höchsten gleichen“ verwandt ist.9 Wenn sich der Mensch unten in einem Zustand der Freude befindet, ruft dies einen ähnlichen Zustand der Freude Oben hervor.10 Außerdem ist das Himmlische Reich analog zum irdischen.11 So wie die Simcha auf der Erde die Barrieren, die einen umschließen, durchbricht, so werden auch Oben zur Zeit von Simcha alle Maße und Beschränkungen aufgehoben.

Die Awoda des Menschen, der ein Mikrokosmos ist,12 hat drei Facetten: Tora, Awoda und Gemilut Chassadim.13 Alle drei müssen mit Freude getan werden. So heißt es in der Gemara: „Man soll nicht aufstehen und beten, wenn man traurig ist, und auch nicht, wenn man müßig ist, ... sondern nur, wenn man sich darüber freut, eine Mizwa auszuüben.“14 Das Gebet, das die Facette der Awoda ist („Was ist die Awoda des Herzens? Es ist das Gebet!“15 ), muss also mit Freude erfolgen. Das Gleiche gilt für die Facette der Tora; auch sie muss mit Freude studiert werden, wie die Gemara sagt: „Dies gilt auch von der Halacha.“16 Dies trifft auch zu auf die Facette von Gemilut Chassadim, dem Ausüben von liebender Güte und Wohltaten durch Wort und Tat, wovon gesagt wird: „Lass dein Herz nicht betrübt sein [wenn du gibst ...]“,17 und aus einer negativen Aussage kann man den Umkehrschluss, die positive Implikation, ableiten.18 Unsere Weisen sagten also: „Wer [die Armen mit tröstenden Worten] besänftigt, erhält elf Segnungen.“19 Daraus folgt, dass der Dienst an G-tt mit diesen drei Facetten mit Freude und Fröhlichkeit des Herzens erfolgen muss.

X. Es wurde oben gesagt, dass wahre Freude die Erwartung der Vernunft übersteigt. Wenn also der Dienst an G-tt mit Freude erfolgen soll, muss er mit Kabbalat Ol getätigt werden. Eine Awoda, die dem Verstand und der Wahrnehmung des Menschen folgt, ist begrenzt und daher unfähig, zu wahrer Freude zu führen, die unbegrenzt ist. Awoda im Sinne von Kabbalat Ol übersteigt die Wahrnehmung des endlichen Menschen: Er verneint sich selbst und verbindet sich mit G-tt, dem Unendlichen, indem er die G-ttlichen Gebote befolgt. Der Begriff Mizwa ist also ein sprachlicher Anklang an „Zawta – Verbindung, Zusammenschluss.“20 Die Verbindung mit dem Unendlichen bewirkt, dass man über persönliche Beschränkungen hinausgeht, was das wahre Wesen von Simcha ist.

Man ist nun versucht, zu fragen:

Der Mensch ist ein rationales Wesen. Aufgrund seines Verstandes und seiner Intelligenz ist der Mensch den Tieren überlegen. Wie kann man dann vom Menschen verlangen, dass er sein Vernunftvermögen beiseite legt und sein Verhalten an bloßem Kabbalat Ol ausrichtet und die Gebote seines Verstandes missachtet?

Unsere Weisen interpretierten daher den Vers „(das Schöpfungswerk,) das G-tt geschaffen hat, La-asot (zu machen)“21 als „Letaken – zu verbessern.“22 Alle Geschöpfe G-ttes sind nicht dazu bestimmt, so zu bleiben, wie sie sind.23 Ihr Zweck ist es, zu einem höheren Zustand und zur Vollkommenheit erhoben zu werden. Mineralien sollen in der pflanzlichen Klasse aufgehen, die pflanzliche in der tierischen Klasse, die tierische in der menschlichen Klasse, und der Mensch, der ein vernunftbegabtes Wesen ist, soll in der G-ttlichkeit aufgehen, die die Vernunft übersteigt.24 Der Mensch erreicht dies durch die Betrachtung der G-ttlichen Größe, durch Liebe und Furcht vor G-tt und durch das Befolgen der G-ttlichen Gebote in einem Modus des „Annehmens des Jochs des Himmelreiches.“ Der Mensch, das vernunftbegabte Wesen, wurde geschaffen, damit „der Mensch“ (d. h. der menschliche Intellekt) in dem aufgehen kann, was den Intellekt übersteigt.

XI. In diesem Zusammenhang können wir verstehen, warum man keinen Jubel sehen kann, wenn man nicht zuvor den Jubel von Simchat Bet haScho-ewa gesehen hat.

Simchat Bet haScho-ewa leitet sich von dem Wasser-Gussopfer auf dem Altar während Sukkot ab, zusätzlich zu den Wein-Gussopfern während des ganzen Jahres.

Der Midrasch25 führt diesen Brauch auf die ersten Tage der Schöpfung zurück: „Und G-tt sprach: ‚Es sei ein Firmament inmitten der Wasser, und es soll zwischen Wasser und Wasser scheiden‘ ... und schied das Wasser unterhalb des Firmaments – [das nun das ‚untere Wasser‘ wurde] – von dem Wasser oberhalb des Firmaments [das das ‚obere Wasser‘ wurde] ...“26 Das „untere Wasser“ reagierte mit einem sehnsüchtigen Ruf: „Wir wollen in der Gegenwart des Königs sein!“27 Daraufhin versprach G-tt ihnen, dass Wasser von ihnen genommen und auf den Altar gegossen werden würde.

Das Wasser-Gussopfer auf dem Altar während Sukkot beseitigt also das Gefühl der Trennung und des Abstiegs der „unteren Wasser.“ Darüber hinaus werden sie auf ein höheres Niveau gehoben, als sie es vor dem Abstieg waren. Denn jeder Abstieg hat den Zweck, einen Aufstieg zu bewirken.

Auf der geistigen Ebene bedeutet die Trennung zwischen den „oberen Wassern“ und den „unteren Wassern“ die allgemeine Trennung von Höherem und Niedrigerem, von Geistigem und Körperlichem, von „Die Himmel sind die Himmel des Ewigen, aber die Erde hat Er den Menschenkindern gegeben.“28

Diese Trennung bezieht sich jedoch nur auf die Reihenfolge des tatsächlichen Schöpfungsprozesses zum Zeitpunkt der Schöpfung. Die Schöpfung selbst dient dem Zweck, „‚… das G-tt geschaffen hat, La-asot‘ – d. h., Letaken, zu verbessern!“ Alle Dinge, die unten sind, sollen erhöht werden, und zwar auf eine höhere Ebene als ihr ursprünglicher Status vor ihrem Abstieg. Dies zeigt sich in der Episode der „unteren Wasser“, die rufen, dass sie „in der Gegenwart des Königs sein wollen“, und G-tt verspricht ihnen, dass sie auf den Altar gegossen werden und so einen noch höheren Status als ihren ursprünglichen erreichen werden.

Dies ist der Grund für den großen Jubel an Simchat Bet haScho-ewa. Alle Spaltungen und Trennungen der Welt werden hierdurch aufgehoben. Alle Barrieren und Beschränkungen der Welt werden durchbrochen, indem man sich mit G-tt verbindet. Simcha durchbricht Barrieren.

Genau aus diesem Grund wird Simchat Bet haScho-ewa zur Quelle und Wurzel jeder Simcha, d. h. der wahren Natur der Simcha, die das Überwinden weltlicher Barrieren beinhaltet.

XII. Nun kann man eine andere Frage stellen: Die Natur, die natürliche Ordnung, ist selbst eine G-ttliche Schöpfung. Wie kann man sich dann aufmachen, ihr zu widersprechen? Dies ähnelt einer Frage, die Rabbi Akiwa gestellt wurde: „Wie können wir es wagen, die Armen zu unterstützen, wenn G-tt sie so geschaffen hat, wie sie sind?“29

Die Antwort lautet wie folgt:

An demselben Tag, an dem G-tt eine Trennung zwischen oben und unten machte, erklärte Er, dass diese Trennung einen Aufstieg bewirken soll. So steht geschrieben: „Machazti (Ich habe verwundet) und Ich werde heilen.“30 Machazti, wie es unsere Weisen interpretieren,31 ist ein Ausdruck von Mechitza (Teilung; Trennung), und zusammen mit der Schaffung dieser Mechitza steht auch das „Ich werde heilen.“ Man tut also nichts, was der geschaffenen Ordnung zuwiderläuft. Im Gegenteil: Man führt den eigentlichen Sinn und Zweck der Schöpfung aus und erfüllt ihn.

Die Schranken der Welt und der Natur sollen durchbrochen werden, und man soll das Übernatürliche in das Natürliche der unteren Welt hineinziehen.

XIII. Wenn der Talmud sagt: „Wer den Jubel von Simchat Bet haScho-ewa nicht gesehen hat, hat in seinem Leben nie Jubel gesehen“, dann ist das nicht einfach eine Feststellung. Es ist eine Anleitung für den Dienst des Menschen an seinem Schöpfer.

Der Talmud lehrt uns, dass man Freude in allen drei Bereichen von Tora, Awoda und Gemilut Chassadim (die für ihre Ausführung Simcha erfordern) erlangen kann, indem man die Freude von Simchat Bet haScho-ewa beobachtet und sie bis zu dem Punkt betrachtet, an dem man sie tatsächlich wahrnimmt.

Der Ausdruck „hat den Jubel von Simchat Bet haScho-ewa gesehen“ ist analog zu „Mein Herz hat viel Weisheit und Erkenntnis gesehen [d. h. intellektuell wahrgenommen].“32 Wenn man also Simchat Bet haScho-ewa beobachtet und über den Sinn und Zweck des „Abstiegs“ nachdenkt, wird man erkennen, dass die Absicht dieses „Abstiegs“ darin besteht, einen außergewöhnlichen „Aufstieg“ zu bewirken; und „Sehen“ übertrifft „Hören.“33

XIV. Genauer gesagt, bezieht sich dies auf die Awoda des Menschen wie folgt:

Wenn man über den eigentlichen Zweck der Erschaffung des Intellekts nachdenkt, wird man erkennen, dass das ultimative Ziel darin besteht, dass der Intellekt selbst im Übernatürlichen aufgeht.

Dies verleiht die Fähigkeit, die Fesseln und Begrenzungen des Körpers, die Fesseln und Begrenzungen der „tierischen Seele“ und auch die der „G-ttlichen Seele“ zu entfernen und das „Joch des Himmelreiches“ auf sich zu nehmen. So zieht man Simcha in seine Seele, und damit auch in die ganze Welt.

XV. Es wird gesagt, dass der Begriff Simchat Bet haScho-ewa [wörtlich: „die Freude am Ort des (Wasser-)Schöpfens“] von der Tatsache herrührt, dass „von dort Ruach haKodesch geschöpft wurde“34, und der Talmud Jeruschalmi35 sagt über den Propheten Jona ben Amitai, dass seine Prophezeiung durch Simchat Bet haScho-ewa über ihn kam.

Dies wirft auf Anhieb ein Problem auf. Tausende und Abertausende von Juden nahmen am Simchat Bet haScho-ewa im Bet haMikdasch teil, darunter viele große Gelehrte. Wie gesagt, haben alle aus diesem Ereignis „Ruach haKodesch geschöpft“; warum dann der spezielle Hinweis auf Jona?

Die Geschichten und Aussagen der Tora sind kein beiläufiges Gerede, sondern Anweisungen für den Dienst des Menschen an seinem Schöpfer.36 Dies muss daher auch für den Kommentar des Talmuds zu Jona gelten.

Der Sohar37 konstatiert, dass Jona ben Amitai die Seele bedeutet, und stellt eine entsprechende etymologische Beziehung zwischen dem Namen Jona und „Ihr sollt einander nicht tonu (übervorteilen; täuschen)“ her.38 Die Implikation ist, dass, wenn die Seele in einen Körper hinabsteigt, die Entfernung und Gegensätzlichkeit zwischen Seele und Körper besondere Vorsicht erfordert, um zu verhindern, dass der Körper die Seele täuscht. Die Seele soll den Körper, d. h. das Physische, betören, um ihn zu einer Wohnstätte für die G-ttlichkeit zu machen.

Jetzt können wir verstehen, warum speziell auf Jona Bezug genommen wird, der aus Simchat Bet haScho-ewa schöpft. Denn Simchat Bet haScho-ewa bedeutet, wie oben erklärt, das Konzept von „Machazti und Ich werde heilen“ und das Prinzip von „‚… das G-tt geschaffen hat, La-asot‘ – d. h. Letaken (zu verbessern)“, dass man in der Lage ist, das Physische trotz seines Abstiegs auf eine höhere Ebene als seinen ursprünglichen Zustand zu heben. Von Simchat Bet haScho-ewa leitet man die Fähigkeit ab für „Jona – im Sinne von Ona-a“, das Physische der Welt selbst zu betören, um eine Wohnstätte für die G-ttlichkeit zu werden.39

(Adaptiert aus einer Sicha gehalten an Simchat Bet haScho-ewa 5716)