Welche Ebene darf man selbst anstreben? Diese Frage hat nichts mit großartigen akademischen, geschäftlichen oder beruflichen Verdiensten zu tun, sondern dreht sich um persönliche Entwicklung und Verbesserung. Ist es zwingend erforderlich oder überhaupt möglich, dass jeder ein sprichwörtlicher Tzaddik (Gerechter) wird? Im Talmud steht geschrieben, dass jeder Mensch die Pflicht hat, sich zu fragen: „Wann werden meine Taten diejenigen von meinen Vorvätern Abraham, Isaak und Jakob erreichen?“ Kann jedoch jeder Mensch solch schwindelerregende Höhen erreichen? In Tanja, dem Chassidischen Klassiker, entwickelt Rabbiner Schneur Zalman von Liadi eine phänomenale Antwort auf diese alte Frage und revolutionierte damit die jüdische Welt mit seiner Konzeptualisierung des Benoni.

Traditioneller Weise werden drei Begriffe verwendet, um den Stand eines Menschen auszudrücken:

1. Tzaddik - der Gerechte
2. Benoni - der Mittlere
3. Rascha - der Bösewicht

In den klassischen Texten war ein Tzaddik ein Mensch, der mehr spirituelles Guthaben als Schulden hatte, ein Rascha hat mehr Schulden als Guthaben, und ein Benoni hat eine ausgeglichene Bilanz. Am Rosch Haschana (Jüdischen Neujahrsfest) werden wir auf die G-ttliche Waage gelegt und hoffen und beten, dass wir ins Buch der Gerechten aufgenommen werden.

Solch ein allzu simpler Ansatz bringt jedoch Probleme mit sich. Was sind die Bedingungen, unter denen solch eine Selbstbewertung stattfindet? Es ist wahr, dass der himmlische Gerichtshof individuelle Umstände, menschliche Schwächen und persönliche Herausforderungen erkennen kann? Aber wenn man die außerordentlich komplizierte Natur der menschlichen Psyche zusammen mit den Problemen der jeweiligen Generation und dem spezifischen geographischen Standort in Betracht zieht, wie kann man dann vor sich selbst ganz ehrlich sein und sich wirklich realistisch einschätzen? Außerdem muss man Charakterschwächen bedenken! Wie sollen wir den anscheinend nie endenden Zyklus von Entscheidungen, sich zu ändern und dem darauffolgenden Versagen bewältigen? Sind wir Tzaddikim (Gerechte) zur Zeit des Triumphes und Raschaim (Bösewichte) zur Zeit des Debakels?

Im Buch Tanja gibt auf diese Fragen Antworten, die einen wichtigen Einblick in das Wesen des Menschen beinhalten. Der Autor gesteht zu, dass er dieses Buch nicht aus akademischen Gründen geschrieben hat, sondern vielmehr als eine schriftliche Sammlung von Ratschlägen, die er Tausenden Chassidim gegeben habe, die seinen Rat in persönlichen Fragen bezüglich spiritueller Probleme gesucht hatten. Tatsächlich nannte er anfänglich sein Buch Likutei Amarim, was wörtlich „Eine Sammlung von Aussagen“ bedeutet. Das Buch ist jedoch mehr als eine bloße Ratschlag-Sammlung. In ihm entwickelt der Autor das Konzept des Benoni und beschäftigt sich mit seinen vielen spirituellen Problemen.

Ein Jude ist nach Meinung von Rabbiner Schneur Zalman von Liadi aus zwei getrennten Seelen zusammengesetzt, die jeweils eine andere Infrastruktur von Seelenkräften aufweist. Die erste Seele wird Nefesch HaBehamit (die animalistische / animalische Seele) genannt, die den Körper belebt. Es ist die Seele des Fleisches, - und seine Seelenkräfte des Glaubens, Vergnügens, Willens, Intellekts und der Emotionen streben danach, körperliche Bedürfnisse zu befriedigen. Sie ist nicht intrinsisch schlecht, da G-tt sie so geschaffen hat. Ohne die animalistische Seele würden wir nicht das Bedürfnis haben, unsere Körper zu erhalten oder sogar Kinder zu bekommen.

Die zweite Seele ist die Nefesch Elokit (die G-ttliche Seele), die wirklich ein Funke G-ttes, - oder, wie Job es ausdrückt, - ein „Teil des Einen“ ist. Diese Nefesch Elokit besitzt auch die Seelenkräfte des Glaubens, Vergnügens, Willens, Intellekts und der Emotionen. Diese sind jedoch, nicht wie bei der Nefesch HaBehamit, auf G-tt ausgerichtet und streben nach Spiritualität.

So wie ein unbekleideter Körper Kleidung braucht, so brauchen die Seelenkräfte „Gewänder“, um zum Ausdruck zu kommen. Diese Gewänder sind Gedanken, Worte und Taten. Die gedanklichen Vorstellungen sind so etwas wie ein Niemandsland zwischen den beiden Seelenkräften der Nefesch Elokit und der Nefesch HaBehamit, und jede möchte die Überhand haben. In Rabbiner Schneur Zalman von Liadi’s Definition ist derjenige, dessen gedankliche Vorstellungen ganz und gar von der Nefesch Elokit eingenommen werden und dessen Nefesch HaBehamit unterworfen und unterminiert ist, ein Tzaddik. Wenn die Nefesch HaBehamit die Überhand gewonnen hat und die Nefesch Elokit unterminiert worden ist, dann ist man ein Rascha. Das bedeutet nicht unbedingt, dass diese Menschen schlecht sind, sondern sie werden vielmehr durch egoistische Triebe motiviert.

Hier wollen wir nun die radikale Definition des Benoni hinzuziehen. Der Benoni ist derjenige, dessen Nefesch Elokit die gedanklichen Vorstellungen beherrscht, aber dessen Nefesch HaBehamit keineswegs verfeinert oder sublimiert worden ist. Im Gegenteil, die Nefesch HaBehamit greift dauernd an und versucht, in die gedanklichen Vorstellungen einzudringen, wobei die Nefesch Elokit sie im Schach hält. Das Resultat sind Menschen, die von der Nefesch Elokit beherrscht werden, und die die Mitzwot in Gedanken, Worten und Taten halten. Auf der anderen Seite werden sie dauernd von der dunkleren Seite ihres Charakters herausgefordert. Der Benoni kann sein ganzes Leben lang in solch einer Situation verbleiben. Er braucht sich nicht über seine Unfähigkeit, seine Nefesch HaBehamit zu verfeinern, zu grämen, da dies über seine Fähigkeiten hinausgeht. Nicht jeder Mensch kann die Verfeinerungsstufe des Tzaddik erreichen. Jeder kann und sollte aber versuchen, wenigstens ein Benoni zu werden.

Tatsächlich sind die meisten Menschen auf der Stufe des unvollkommenen Rascha, wo während unserer spirituellen Momente die Nefesch Elokit unseren Geist beherrscht, so wie während des Gebets und beim Torastudium, während zu anderen Zeiten die Nefesch HaBehamit die Überhand gewinnt. Das ganze Buch Tanja ist der Erläuterung dessen gewidmet, wie jeder auf die Stufe des Benoni kommen kann, wo man alle Gebote G-ttes erfüllt, obwohl die Kräfte der Rebellion und des Ego auf einer mehr unbewussten Ebene vorhanden sind. Rabbiner Schneur Zalman nennt sein Buch Sefer Schel Benonim (Ein Buch für den Benoni). Darin legt er dar, dass jeder Mensch ein Benoni werden kann. Er erklärt, wie es für jeden Menschen möglich ist, seine Gedanken zu beherrschen, obwohl die Seelenkräfte der Nefesch HaBehamit im Hintergrund stehen und auf eine Schwächung der Abwehrkräfte warten.

Solch eine Darstellung gibt dem durchschnittlichen Menschen, der mit seinen Trieben und Gelüsten kämpft, Hoffnung. Zum Beispiel könnte es sein, dass ein Mensch mit einem sehr starken Sexualtrieb ausgestattet worden ist, so dass es ihm sehr schwer fällt, alle anzüglichen Gedanken aus seinen Gedankengut zu verbannen. Manche Menschen werden durch ihre Unfähigkeit, solche unsinnigen Gedanken zu verfeinern und zu unterdrücken, betrübt. (Es soll hier angemerkt werden, dass diese Trübsal sich nicht auf klinische Depression, die eine medizinische Krankheit darstellt und ärztlicher Hilfe bedarf, bezieht.) Dieses Gefühl der Hilflosigkeit und des Selbsthasses ist tragisch, da es zu einem Mangel an Kraft und Willen führt, den Kampf gegen seine Schwächen weiterzuführen. Im Gedankengut von Rabbiner Schneur Zalman wird von dem Benoni jedoch nicht erwartet, dass er die Fähigkeit hat, seine Nefesch HaBehamit auszumerzen. Er kann aber auf jeden Fall seine Nefesch HaBehamit im Zaum halten und davon abhalten, die Oberhand zu gewinnen. Obwohl der Benoni dauernd durch solche Gedanken herausgefordert wird, hat er die Kraft, sie aus seinem Gedankengut auszuschließen.

Egal welche anzüglichen Gedanken der Benoni bekommt, er freut sich darüber, dass er die Gelegenheit hat, das Gebot „Lass dich nicht von deinem Herzen oder deinen Augen irreführen!“ einzuhalten. Er erkennt, dass er kein Tzaddik ist und eine sehr animalistische Natur hat. Er wundert sich gar nicht, dass er diesen Trieb noch abgelegt hat, und er stellt sicher, dass sich solche Gedanken niemals in seinem Gedankengut einnisten.

Im Buch Tanja gibt der Rabbiner Schneur Zalman ausführliche Anweisungen, wie man mit den tagtäglichen Herausforderungen der Nefesch HaBehamit umgehen sollte. Er verlangt, dass man Hashem mit Freude dient, während man darüber nachdenkt, dass G-tt nah und mitleidsvoll ist und sich aktiv darum bemüht, dem Menschen zu helfen, seine Schwächen zu überwinden. Die tiefste Sphäre gibt es nicht nur in dieser Welt, sondern sie besteht auch in jedem Menschen, da wir aus Nefesch Elokit und Nefesch HaBehamit zusammengesetzt sind. Daher können wir zwischen ekstatischer Spiritualität und krassem Hedonismus hin- und herpendeln. Der Benoni erfüllt den Sinn der Schöpfung, indem er der Nefesch HaBehamit ein „Joch“ auferlegt und sie zum G-ttesdienst anspornt. Das Konzept „Dira BeTachtonim“ (eine Wohnstätte für G-tt in den niederen Sphären) wird primär in den Menschen erfüllt und dann auch in der sie umgebenden Welt. Laut Chassidut sollen wir uns mit der Nefesch HaBehamit intellektuell auseinandersetzen und ihr erklären, warum es vorteilhaft wäre, der Nefesch Elokit zuzustimmen.

Es gibt eine schöne Parabel im Sohar über den Sohn eines Königs, der in der feinsten Tradition erzogen worden war. Eines Tages entschloss sich der König, seinen Sohn zu testen, um zu sehen, ob seine Erziehung einer Herausforderung standhalten würde. Er beauftragte eine Prostituierte, seinen Sohn zu verführen, wofür sie im Falle des Erfolgs reich belohnt werden würde. Sie versuchte es und war nicht erfolgreich. Der Prinz bestand den Test. Der König war hocherfreut. Er war auch erfreut über die Prostituierte, da sie nicht erfolgreich war. So beauftragt der König G-tt die „Böse Neigung“, um uns zu versuchen. Wenn die Böse Neigung nicht erfolgreich ist, dann ist G-tt über uns - und auch über sie - hocherfreut. Das Gegenteil wäre passiert, wenn die Böse Neigung erfolgreich gewesen wäre. Denn wenn sie Erfolg hat, dann geht es allen schlecht. Daher ist es die Aufgabe der Nefesch Elokit, der Nefesch HaBehamit zu erläutern, dass es beiden gut geht, wenn sie beide (!) G-ttes Gebote befolgen, - da es keine flüchtigen Vergnügungen gibt, für die es wert wäre, die Ewigkeit zu opfern.

Wir sollten durch den Gedanken getröstet werden, dass trotz der großen Herausforderungen, denen diese Generation ausgesetzt ist, diese Generation die Epoche des Moschiach ist. Um auf Kurs zu bleiben muss ein Jude heutzutage zu enormer Selbstaufopferung bereit sein. Durch tiefgreifende Kontemplation im Gebet sollte er die Einstellung entwickeln, dass alles von G-tt erschaffen wurde und dass es nicht anderes als den G-ttlichen Willen gibt. Er sollte die Nichtigkeiten der Welt verachten und ihre oberflächliche Verlockungen durchschauen. Solch eine Selbst-Aufopferung bewirkt eine kräftige Antwort von G-tt, d.h. „von Oben“, in Form Himmlischer Hilfe und Unterstützung. Um es mit den Worten von Rabbiner Meir von Premischlan zu sagen: „Wenn ein Jude ‚oben’ verbunden ist, dann fällt er ‚unten’ nicht herunter“.

Keiner sollte als Entschuldigung anführen, dass er mit einer zu starken bösen Neigung ausgestattet wurde, um den G-ttlichen Dienst zu leisten. Jeder hat einen freien Willen, und G-tt verlangt nicht das Unmögliche von seinen Kreaturen. Außerdem gibt Er uns keine Herausforderungen, die keinen Sinn und Zweck haben. Wenn G-tt von uns verlangt, dass wir seine Mitzwot ausführen, obwohl wir eine Nefesch HaBehamit haben, dann müssen wir auch ganz und gar dazu in der Lage sein. Wir müssen um G-ttliche Hilfe bitten, um unsere eigenen Bemühungen zu unterstützen.