Eine der größten Herausforderungen auf dieser Welt besteht darin, dass wir nicht verstehen können, warum es auf dieser Erde so viel Leid gibt. Wenn wir Krisen, Traumen oder Trauer erleben, dann suchen wir oft intuitiv nach dem Sinn und Grund. Die furchtbare Erkenntnis, dass wir vielleicht niemals die Antworten, nach denen wir suchen, finden werden, verunsichert uns. Eine Möglichkeit, mit der die kabbalistischen Schriften unseren Glauben wieder herzustellen versuchen, ist die Darstellungen der Reinkarnation und Seelenwanderung. Obwohl es zu diesem Thema in den Heiligen Schriften keine direkten Abhandlungen gibt, legt der berühmte Kabbalist Arisal in dem Werk „Schaar HaGilgulim – Das Tor der Wiedergeburt“ seine Prinzipien der Reinkarnation dar.

Die Seele ist ewig, ist ein Funke G-ttes oder – wie es der Prophet Hiob ausdrückt: „Ein Teil G-ttes dort oben“. Die Seele existiert, bevor sie in den Körper geht, und sie lebt, nachdem der Köper zur Ruhe gelegt wurde. Obwohl der Ursprung der Seele in den höheren Welten zu finden ist, gibt es etwas, was die Seele nur in einem Körper, und nicht in den himmlischen Sphären vollbringen kann. Es ist der Sinn der Schöpfung, in dieser Welt eine Wohnstätte für G-tt zu erbauen. Obwohl die höheren Welten herrliche Offenbarungen anzubieten haben und den besten Lohn für eine Seele nach der Erfüllung ihrer weltlichen Aufgaben darstellen, sind die himmlischen Sphären nicht der Sinn der Schöpfung. Es war G-ttes Wunsch, eine Welt zu erschaffen, wo Seine Gegenwart verborgen, dafür aber Dunkelheit und Böses vorherrschen würde. Indem Er Seinen Kindern die Aufgabe, eine Wohnstätte in dieser Welt zu errichten, gab, kann die Seele diese Aufgabe erfüllen, indem sie sich an die Tora und Mitzwot hält.

In der Kabbala wird erklärt, dass die Seele aus 613 Komponenten besteht, die den 248 Gliedmassen und 365 Blutgefässen entsprechen. Diese 613 Komponenten werden ewiglich erhoben, wenn die Seele alle 613 Mitzwot in ihrer weltlichen Form einhält. Normalerweise schafft es eine Seele nicht, all die Gebote während einer Lebenszeit zu halten. Arisal erläutert, dass deswegen jede Seele wiederholt re-inkarniert wird, bis sie alle 613 Mitzwot in Gedanken, Worten und Taten erfüllt hat. Im vorigen Kapitel haben wir uns mit der Reinigung der Seelen durch Gehinom beschäftigt. Da wird die Seele gesäubert, um zum Garten Eden aufsteigen zu können. Wie erklärt sich dieses Konzept mit der Idee der Wiedergeburt?

Die Kabbalisten erklären, dass bei der Rückkehr einer Seele auf diese Welt der Teil, der durch Torastudium und Mitzwot erhoben worden war, nicht wiedergeboren wird. Nur die anderen Teile der Seele, die durch die erste Inkarnation nicht betroffen wurden, kehren auf diese Welt zurück. Die Möglichkeit, dass eine Seele getrennt und nur ein Teil einer Seele wiedergeboren wird, wird in kabbalistischen Kreisen besprochen. Die ursprüngliche Idee kommt von Adam, dessen Seele sich aus allen zukünftigen Seelen zusammensetzte. Auch bestand die Seele Jakobs aus 70 Teilen, die sich in die 600 000 Seelen Israels aufspalteten. Diese 600 000 wurden dann wiederum in weitere 600 000 unterteilt. Durch verschiedene Reinkarnationen werden alle Teile der Seele erhöht, - und wenn die ganze Seele erhöht worden ist, dann braucht die Seele keine weiteren Reinkarnationen. Deshalb haben einige Menschen eine besondere Mitzwa, die sie besonders gut ausführen. Es kann sein, dass die Seele dieses Menschen wieder auf diese Welt kam, um diese Mitzwa zu erfüllen.

In der Midrasch stehen die fünf Namen der Seele: Nefesch (Seele der Vitalität), Ruach (Geist), Neschama (Atem des Lebens), Chaja (Lebendige), und Jechida (Einzige). In der Kabbala wird erklärt, dass diese fünf Namen den Ebenen der Seele in jeder der Welten entspricht. Nefesch entspricht der Seele in der Welt von Assija (Taten), Ruach entspricht der Seele in Jetzira, Neschama entspricht der Seele in Beria und Chaja entspricht der Seele in Atzilut. Jechida repräsentiert den wesentlichen Punkt der Seele (Etzem HaNeschama), der im Or Ein Sof verwurzelt ist. Chassidische Schriften legen dar, dass sich die Nefesch im Blut befindet, Ruach im Herzen und Neschama im Gehirn. Chaja und Jechida transzendieren den Körper und verhüllen sich in keinem bestimmten Körperteil. Die Kabbalisten erklären, dass alle Ebenen der Seele durch wiederholte Reinkarnationen erhöht werden.

FÜNF EBENEN DER SEELE UND WELTEN

Seele

Welt

Jechida (Einzige)

Ein Sof (Unendliche)

Chaja (Lebendige)

Atzilut (Welt der Emanation)

Neschama (Atem des Lebens)

Beria (Welt der Schöpfung)

Ruach (Geist)

Jetzira (Welt der Formation)

Nefesch (Seele der Vitalität)

Assija (Welt der Taten)

Seelen können auch wiedergeboren werden, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, Schulden zu begleichen oder eine Sünde zu korrigieren. Tatsächlich wird das Konzept der Reinkarnation als Korrektur der Sünden durch die Kabbalisten gut dokumentiert.

Die Beschäftigung mit Seelenwanderungen, d.h. wie die Seele einer früheren Generation in einer späteren Generation wiedergeboren wird, ist eine sehr interessante Aufgabe. So wird die Seele in bestimmte Umstände hineingeboren, die genau darauf zugeschnitten sind, eine frühere Sünde zu korrigieren. Aus Hunderten von Beispielen wollen wir hier eines zitieren, das in dem Buch Schaarei Teschuwa (Tore der Reue) von Rabbiner Dowber von Lubawitsch, einem herausragenden Kabbalisten und chassidischen Rebbe, dokumentiert ist:

Betrachten wir das Jahr 1492 der spanischen Inquisition, so fragen wir uns, warum gerade diese Generation die unmögliche Aufgabe bekam, sich zwischen Apostasie und Scheiterhaufen zu entscheiden. Warum mussten die Juden zu dieser Zeit solch entsetzliche Qualen und das Exil erleiden? Rabbiner Dowber schreibt dazu:

Zur Zeit des ersten Tempels dienten diese Menschen G-tt und warfen nicht das Joch des Himmels von sich, außer sie verlangten nach bestimmten Götzendienstverehrungen. Das ging soweit, dass zur Zeit des Ahab nur 7000 Menschen verblieben, die dem Druck der Baal-Verehrung nicht nachgegeben hatten. Alle Könige, die diesen Götzen dienten, waren zwar großartige Männer; jedoch hatten sie sich mit dieser ruchlosen Sünde befleckt. Und diese Generationen, die aus eben diesen erhabenen Seelen bestanden, erhielten ihre Korrigierung und Erhöhung erst im Zeitraum zwischen den Philosophen Raschi und Rambam bis zu Arisal. Es beginnt im Jahr 4856 (1096), dauert bis zur Ausweisung der Juden aus Portugal im Jahre 5252 (1492), und darüber hinaus bis zur Zeit des Arisal 5333 (1573). Der Arisal stellte explizit dar, dass in seiner Zeit die Zeitspanne der Zerstörung, welche die jüdische Welt in den vorhergehenden 500 Jahren überflutet habe, nun beendet sei. All die Tausenden und Zehntausenden, die ihr Leben zur Heiligung des Namens G-ttes in jeder Generation geopfert hätten, wären Seelen der ersten Tempelzeit. Ihre Sünde war, dass sie früher Götzen gedient und damit die Kelipot (Bedeckungen spiritueller Unreinheit) gestärkt hatten. Daher war es ihre Korrektur, ihr Leben zur Heiligung des Namens G-ttes in einfachem Glauben aufzugeben, der jede Logik oder Philosophie transzendiert.

Stellen wir uns eine Seele vor, die zwar die himmlischen Sphären während der ersten Tempelzeit betrat, aber durch die schwere Sünde des Götzendienstes befleckt wurde. Diese Seele hätte sich sehr auf eine Gelegenheit gefreut, wieder auf diese Welt zurückzukehren, um ihren Fehler zu korrigieren. Jede Qual wäre es wert gewesen, um ewiges Seelenheil zu erlangen. Daher stieg diese Seele in einer späteren Generation in einen Körper hinab, um ihren Fehler zu korrigieren. Obwohl der Körper des spanischen Juden es nicht verstehen konnte, warum er oder sie diesen Torturen ausgesetzt wurde, war dies tatsächlich eine Hilfe, da dies den Schlüssel zur ewigen Heilung darstellte. Tatsächlich betonen die Kabbalisten, dass das hebräische Wort für „Reinkarnation“ – Gilgul – denselben Begriff Gematria (numerischen Wert) wie der Begriff Chessed (Liebenswürdigkeit) hat.

Solche Erklärungen haben jedoch ihre Unzulänglichkeiten. Kann man den Holocaust mit Reinkarnation erklären? Der Lubawitscher Rebbe war der Meinung, dass, obwohl das Konzept der Reinkarnation eine Komponente der Erklärung des Holocausts sein könne, man sich kein so furchtbares Verbrechen vollstellen dürfe, um die Grauenhaftigkeiten solcher Dimensionen zu rechtfertigen. Es wäre arrogant, einen Grund für solch mitleidlose Brutalität und Vernichtung vorzuschlagen. Man solle daher die bescheidene Position vertreten, dass wir diese Tragödie nicht verstehen können. Um es mit den Worten des Propheten Jesaja zu sagen:

„Meine Wege sind nicht eure Wege, und Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, sagt G-tt“ (Jesaja 55:8).

Obwohl das Konzept der Reinkarnation nicht alle Formen des Leidens erklärt, kann es uns helfen, bestimmte Tragödien zu verstehen, z.B. wenn Menschen plötzlich bei einem Unfall, an Krankheiten oder im Krieg sterben. Es könnte sein, dass ihre Seelen für eine bestimmte Zeit auf diese Welt zurückkehren mussten, um ihre spezifischen Aufgaben zu erfüllen. Danach konnten die Seelen wieder zu ihrer ewigen Wohnstätte zurückkehren. Diese Erklärung sollte auch Ehepaare trösten, die an Infertilität leiden. Denn es könnte sein, dass ein solches Ehepaar seine Mitzwa (Gebot der Vermehrung) schon in einer früheren Inkarnation erfüllt hat und daher nicht verpflichtet ist, Kinder zu haben. Trotzdem sollten Juden alles Mögliche innerhalb des jüdischen Gesetzes tun, um diese Mitzwa der Vermehrung zu erfüllen.

„Die verborgenen Dinge sind für G-tt, und die offenbarten Aspekte sind für uns und unsere Kinder“ (Deuteronomius 29:28).

Als einfache Sterbliche können wir nicht erkennen, wessen Reinkarnation wir sind. Daher sollen wir unkompliziert auf G-ttes Wegen gehen. In schwierigen Zeiten können wir jedoch darin Trost finden, dass alles im G-ttlichen Kaleidoskop detailliert geplant und ausgeführt wurde.

EIN TRÖSTENDER SCHLUSSGEDANKE

Im Buch Samuel steht geschrieben: „Wir müssen sterben, so wie Wasser auf den Boden fließt und nicht wieder aufgesammelt werden kann. Und G-tt bevorzugt keine Seele, sondern Er entwirft Mittel und Wege, damit jener, der verbannt ist, nicht von Ihm losgelöst wird“ (Samuel 2:14).

Rabbiner Schneur Salman zitiert den Schlusssatz dieses Verses als Versicherung, dass kein Jude durch seine Sünden von G-tt verbannt bleibt. Er beschreibt, dass jeder Jude letztendlich - entweder in dieser oder in einer anderen Inkarnation - zu G-tt zurückkehren wird.