Aber es gab immer noch keinen Ausweg aus ihrem Dilemma. Wie sollte sie einen neuen Passierschein erhalten, um ihn nach Samarkand zu senden? Sie ging in den Wald, fand eine Lichtung, und setzte sich hin, um die Dinge zu überlegen.
Sie erinnerte sich daran, wie Vater uns immer eingeprägt hatte, unser Judentum nicht zu verleugnen, auch nicht unter Todesdrohung. Sie hielt sich mit großer Stärke daran und erlitt infolgedessen ungezähltes Leid. Wenn ein Junge sie fragte, "Bist du eine Zhidowka?", stand es ihr nicht frei, das zu leugnen. Also sagte sie "Ja". "Ha, ha" sagte der Junge und dachte, es müsste Spaß machen, ihr einen gemeinen Tritt in den Bauch zu verpassen. Ein anderer Junge mochte diesen "Sport" und stellte dieselbe Frage. Riva antwortete wieder mit "Ja" und bekam einen zweiten Tritt. Diese Art von Quälerei wiederholte sich viele Male.
Am Morgen war Schule, und da war es besser. Die Nachmittage waren zunächst eine Tortur für sie, aber sie entdeckte dann den Wäscheraum, wo sie ihre Hilfe als fähige Näherin anbot. Das Personal war dankbar, Hilfe beim Ausbessern der unendlichen Haufen von Wäsche zu haben. Riva konnte sich dafür an einem friedlichen Nachmittag in der Wärme des Wäscheraums erfreuen. Aber am Abend gab es kein Entkommen. Die Hooligans waren am Abend am schlimmsten und benutzten ihr Judentum zu ihrer Unterhaltung. Sie pflegte, sich in einer dunklen Ecke im Flur nahe bei den Toiletten zu verstecken und zu versuchen, unsichtbar zu sein, indem sie sich gegen die Wand drückte.
Riva saß jetzt also im Wald, erlebte ihre miserable Existenz erneut, und versuchte, eine Lösung zu finden. Sie konnte sich Vater bildlich vorstellen, wie er ihr sagte, dass G-tt sehr gütig war, und wenn jemand etwas wahrhaftig wünschte, mit an emes [aus der Tiefe seines Seins], dann half Er. Sie fragte sich, "Will ich wirklich von diesem Ort wegkommen, ehrlich und aus tiefstem Herzen?" Natürlich tat sie das, ohne den Schatten eines Zweifels.
Warum also half ihr Haschem nicht?
Was würde passieren, wenn sie jetzt aufgäbe und aufhörte, sich so stark zu bemühen? Sie könnte aufhören zu sagen, dass sie jüdisch war, und man würde aufhören, sie deshalb zu schlagen, und wir beide könnten die Dinge schleifen lassen und die nicht-jüdische Lebensweise akzeptieren.
Nein, das ginge nicht! Sie spürte ganz sicher, dass sie sich das niemals würde vergeben können. Und wenn sie eine solche Einstellung erst einmal übernähme, könnte sie ihre Entscheidung nicht zu einem späteren Zeitpunkt einfach wieder umkehren. Nein, sie musste einen Weg von hier fort finden.
Sie sah wieder ein Bild von Vater. Wie achtsam war sie darin, die Prinzipien wirklich einzuhalten, die ihr zuhause beigebracht worden waren. Zum Beispiel Schabbat. Sie erinnerte sich an die hohe Eindringlichkeit, mit der Vater uns die Wichtigkeit eingeprägt hatte, den Schabbat einzuhalten. Konnte sie wirklich von sich sagen, dass sie versucht hatte, den Schabbat zu halten? Natürlich waren damit unzählige Hürden und Schwierigkeiten verbunden, aber hatte sie es versucht? Sie musste sich zugeben, dass sie das nicht genug versucht hatte. Es war damals wirklich sehr schwierig, sich überhaupt daran zu erinnern, wann Schabbat war, geschweige denn, ihn einzuhalten.1
Jetzt aber, nach einiger Zeit des Nachdenkens im Wald, erlangte Riva eine klare Bewusstheit. Vater sagte immer, "Falls du wirklich und wahrhaftig etwas erreichen möchtest und um G-ttes Hilfe bittest, geschieht das." Diese Worte gewannen nun eine neue Bedeutung. Etwas wahrhaftig zu wollen hieß nicht einfach, sich danach ganz stark zu sehnen, sondern es genügend intensiv zu wollen, selber was dafür zu unternehmen. Ihr wurde nun ganz klar, was sie zu tun hatte.
Zunächst musste sie herausfinden, welcher Wochentag es war, und dann musste sie die Tage immer sorgfältig zählen, um zu wissen, wann Schabbat war. Sich erinnern zu können war bereits sehr wertvoll. "Erinnert euch des Tages des Schabbat (2 Buch Moses 20,8)." Als Nächstes musste sie, so gut sie vermochte, vermeiden, den Schabbat zu verletzen. Sie hatte keinerlei Möglichkeiten, die positiven Mizwot (Geboten) des Schabbat auszuführen, wie Kerzen anzuzünden und Kiddush, aber sie konnte versuchen, ihre Schultasche am Schabbat nicht zu tragen, und wenn sie in der Schule war, dann nicht zu schreiben. Sie konnte Finger oder Hand oder Arm bandagieren und vorgeben, sich verletzt zu haben, wie früher in Leningrad. Damit würde sie nicht schreiben müssen. Dann entschloss sie sich, mich zu beeinflussen, dasselbe zu tun.
Wenn sie alles gemacht hatte, würde sie damit Haschem beweisen, dass sie uns wirklich aus dem Waisenheim herauskommen lassen wollte, dass sie G-ttes Willen ausführte. Das ist es, was Vater gemeint haben musste mit "mit an emes " (wahrhaftig). Sicher würde, nachdem sie ihren teil erfüllt hätte, Haschem gar keine andere Wahl haben, als Seinen Teil zu tun und uns zu helfen.
Sie entschloss sich auch, zurück zum Direktor zu gehen und ihr Äußerstes zu tun, um ihn davon zu überzeugen, eine neue Genehmigung auszustellen. Treu gegenüber sich selbst, hielt Riva an allen ihren Vorsätzen fest.
Der Leiter wollte ihr zunächst gar nicht zuhören, aber Riva suchte ihn beharrlich alle paar Tage auf (aber nicht am Schabbat), bis er schließlich, aufgrund reiner Erschöpfung, nachgab und die Genehmigung schrieb. Überglücklich vor Freude, verlor Riva keine Zeit dabei, sie nach Samarkand zu schicken.
Nach dem Erhalt der Bewilligung versammelten sich alle unsere Verwandten, glaube ich, und beauftragten eine sehr nette Frau, die Rivka Moyeseyevna hieß, um zu uns zu reisen und uns aus dem Waisenheim zu holen. Ihre Anweisungen waren sehr klar. Falls sie irgendeine andere Sache in Moskau erledigen wollte, sollte sie das erst tun, nachdem sie uns abgeholt hatte.
An einem Wintertag ließen wir das Waisenhaus hinter uns für immer und fuhren nach Moskau. Von dort nahmen wir den Zug nach Taschkent. Samarkand sollte der letzte Halt sein. Nach vielen Reisetagen erreichten wir Taschkent an einem Freitag. Wir hatten Cousins, die dort lebten, und so blieben wir bei ihnen zum Schabbat. Wir verbrachten den Freitag mit einem der Schapiro's und den Schabbat-Tag mit dem anderen.
Es war etwa drei Jahre her, dass wir zum letzten Mal einen Schabbat hatten und es war sehr seltsam. Aus irgendeinem Grund fühlte sich Riva durch die Schabbat-Erfahrung nicht inspiriert und war sehr unsicher. Sie zweifelte am Sinn der langen Reise und fragte sich, was aus uns wohl werden würde.
Sofort nach Schabbat fuhren wir nach Samarkand weiter. Nach der Ankunft gingen wir erst zu Eisiks Haus. Er hieß uns herzlich willkommen und lud uns zum Essen ein. "Kommt und wascht euch", sagte er. Riva wusch sich, begann mit dem Segensspruch "Al netilat yodoyim" für das Waschen der Hände, blieb aber nach der Hälfte stecken.
Eisik nahm rasch einen Siddur (Gebetbuch) zur Hand, schlug die richtige Stelle auf und hielt es vor Rivas Augen. Der Anblick eines Siddur, der heiligen Schrift, überwältigte sie vollständig. Sie hatte sich so lange danach gesehnt und nun war es vor ihren Augen. Sie brach in eine Flut von Tränen aus. Sie rannen ihr unkontrolliert die Wangen herunter und wuschen etwas vom Leid ab, das so lange Zeit Teil ihrer Existenz gewesen war. Endlich wusste sie, dass sie nach Hause gekommen war!
Das ist die Geschichte unseres persönlichen Exodus, des "Yetzias Mitzrayim - des Auszugs aus Ägyptenn, denn wir waren wirklich von der Unreinheit "Ägyptens" umgeben gewesen. Durch G-ttes Güte und die Verdienste unserer Eltern wurden wir erlöst.
Eine der drei Eigenschaften, die den Juden zugute gehalten wurden, um sie aus Ägypten zu erretten, bestand darin, dass sie ihre jüdischen Namen nicht geändert hatten. Für Riva bedeutete es eine ungeheure Selbstaufopferung, ihren Namen nicht zu ändern. Die vollständige Hingabe unseres Vaters an unsere Erziehung gab ihr die Stärke, diesen große Prüfung und so viele andere zu bestehen. Ihre Kraft dabei, aufrecht zu bleiben und sich nicht unserer unerwünschten und üblen Umgebung zu ergeben, führte zu unserer Errettung.
Möge G-tt die letzte und höchste Erlösung beschleunigen, indem Maschiach sehr rasch offenbart werden möge, jetzt!
Amen!
Fußnoten
1.
Wie ich im Teil Eins erklärt habe, war der schulfreie Tag nach fünf Tagen. Da es weder in den Schulen noch im Waisenheim einen Kalender gab, und da der schulfreie Tag von Woche zu Woche auf einen anderen Tag fiel, wussten die Kinder noch nicht einmal, welcher Wochentag gerade war. Man zählte nur die Tage bis zum nächsten schulfreien Tag, und es gab keinen augenscheinlichen Grund, warum man die Wochentage überhaupt wissen sollte, und es schien sie auch keiner mehr zu kennen. Damit war es also auch sehr schwierig zu wissen, wann Schabbat war.
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