Jetzt, da die Adresse unseres Cousins wieder sicher in Rivas Besitz war, entschied sie sich, dass sie ihm sofort schreiben, ihn über unseren Aufenthalt informieren und ihn bitten musste, uns hier so schnell wie ihm nur möglich war, herauszuholen.

Um schreiben zu können braucht ihr einen Stift und Papier. Sie hatte beides nicht. Sie erinnerte sich jedoch daran, dass sie auf dem Bett eines Mädchens in einem anderen Schlafsaal etwas Papier gesehen hatte. Sie ging dort hin und tatsächlich lag das Stück Papier noch immer auf dem Bett. Der Saal war leer. Sie stand da und blickte sehnsüchtig auf das Papier.

Es war offensichtlich, dass das Mädchen das Papier nicht brauchte, weil sie es schon eine ganze Zeit dort hatte liegen lassen. Sollte sie es einfach nehmen und weggehen? Nein. Das wäre Diebstahl. Sie kannte das Mädchen gut und wusste, dass sie ihr das Papier nie geben würde, wenn sie sie darum bat, dazu war sie zu gemein. Außer natürlich, wenn sie ihr etwas im Tausch dafür gab. Aber was? Sie hatte absolut keinerlei Dinge mehr, die ihr gehörten, sogar die Kleider, die sie trug, waren nicht ihre eigenen. Was könnte sie also tun?

Gerade, als sie so gedankenverloren dastand, kam genau dieses Mädchen herein. „Und was machst du hier?“ fragte sie anklagend. Riva ignorierte ihren Ton und antwortete unschuldig, "Ah, da bist du ja, ich wollte dich nämlich etwas fragen. Du hast dieses Papier, mit dem du nichts mehr anfängst und ich dachte, dass du es mir vielleicht geben würdest."

Das Mädchen traute ihren Ohren nicht, "Bist du verrückt? Glaubst du wirklich, dass ich dir - einer Zhidowka - etwas von mir geben würde?"

"Oh, ich meinte nicht umsonst," gab Riva zurück, "sondern im Tausch gegen etwas."

Während sie diese Worte sagte, wusste Riva nicht, was sie ihr anbieten könnte, aber dann kam ihr blitzartig ein Gedanke. Sie konnte ihr im Austausch gegen das Papier ihre abendliche Scheibe Brot geben. Das war ein gutes Angebot und das Mädchen nahm den Tausch an. Nach dem Essen würde Riva das Papier gehören. Es gelang ihr, die Scheibe Brot aus dem Eßsaal heraus zu schmuggeln, und endlich war das Papier ihres.

Dann erinnerte sie sich daran, dass ein anderes Mädchen einen kleinen Bleistiftstummel hatte. Da sie nach dem Abendessen ohne Brot hungrig war, bot Riva dem Mädchen für die Benutzung des Stummels nur die Hälfte der Brotscheibe an, die sie zum Mittagessen bekam. Das Mädchen war damit einverstanden, und nachdem sie ihr Stück Brot erhalten hatte, ließ sie Riva den Stift benutzen und beobachtete sie wie ein Falke, während Riva damit schrieb. Danach bat Riva ein älteres Mädchen, die Adresse zu schreiben aus Sorge, dass sie sie selbst vielleicht falsch schreiben könnte.

Das "Bleistift-Mädchen" folgte ihr wie ein Schatten, weil sie Riva ihren wertvollen Besitz nicht anvertrauen wollte. Sobald die Adresse geschrieben war, griff sie nach dem Bleistiftstummel und rannte damit weg. Als Nächstes ging Riva zum Postamt und fragte sich, wie viele brotlose Mahlzeiten sie wohl noch zu erdulden hätte, bevor der Brief verschickt werden konnte. Sie hatte aber Glück. Die Postbeamtin war freundlich zu ihr und schlug vor, dass sie den Brief ohne Briefmarke senden sollte. Das bedeutete damals, dass die Empfänger das doppelte Porto bezahlen mussten. Riva war einverstanden, das so zu machen, und richtete sich nun, nachdem sie diese wichtige Aufgabe vollbracht hatte, darauf ein, eine Antwort zu erhalten.

Die Beamtin hatte Riva gesagt, dass ihr Brief etwa drei Wochen brauchte, um ans Ziel zu gelangen, aber in Wirklichkeit dauerte es um Wochen länger. Deshalb kam die Antwort erst drei Monate später.

Da hatten wir bereits mit der Schule angefangen und es war kein solch großes Problem mehr, Papier zu bekommen. Riva schrieb also noch mehr Briefe nach Samarkand, und weigerte sich, die Hoffnung aufzugeben, obwohl sie nicht verstand, warum sie noch nicht einmal auf ihren ersten Brief eine Antwort erhalten hatte.

Schließlich und endlich wurde ihr Vertrauen in die Hilfe G-ttes gerechtfertigt, und sie erhielt einen Brief aus Samarkand, von Pessia Karasik, Eisiks Frau. Ihr Brief war weit davon entfernt, fröhlich zu klingen. Sie beschrieb die letzten Ereignisse in ihrem Leben, die Härten, die sie alle erlitten hatten, und eine Liste der kürzlich in Samarkand Verstorbenen aus unserer Familie. Kein Wort davon, uns aus dem Waisenheim zu holen.

Tatsache war jedoch, dass Rivas Brief unter unseren Verwandten eine Menge Aufregung stiftete. Aufgrund verschiedener Begebenheiten (die weiter oben erwähnt wurden), glaubten sie, dass es in unserer Familie keine Überlebenden mehr gab, so dass sie, als sie hörten, dass wir beiden G-tt sei Dank lebten, überglücklich waren.

Die ersten Jahre des Anash in Samarkand waren jedoch niederschmetternd. Es gab kein Geld und keine Lebensmittel. Viele Menschen verhungerten. Meine Cousine, Bobbe (Oma)1 Mania, verlor ihren Mann und zwei Töchter auf diese Weise, während sie und ihr Sohn Yehoshua durch ein Wunder überlebten.

Während dieser katastrophalen Zeiten kam Rivas Brief an. Es gab gar keine Möglichkeit, dass sie uns zu jener Zeit aus dem Heim holten. Es war notwendig zu warten, bis sich die allgemeine Lage gebessert hätte. Pessia wollte Riva nicht entmutigen, indem sie ihr direkt sagte, dass sie uns noch nicht würde holen lassen können. Sie nahm an, dass Riva, nachdem sie von den tragischen Verlusten in unserer Familie Kenntnis erhalten hätte, von sich aus die Folgen dessen würde begreifen können.

Aber Riva verstand das nicht. Sie war so damit beschäftigt, in einer grauenvollen Welt zu überleben. Sie war so in ihren Problemen gefangen, dass sie die Botschaft zwischen den Zeilen nicht wahrnahm. Sie konnte stattdessen überhaupt nicht verstehen, warum der Antwortbrief gar nicht darauf einging, uns aus dem Heim zu holen. Aber bereits die Tatsache, dass wir wieder Kontakt zu unseren Verwandten hatten, machte unser Leben beträchtlich lichtvoller.

Danach wurden noch viele weitere Briefe ausgetauscht und in jedem Brief, den Riva schrieb, versäumte sie nicht, unsere Bitte zu wiederholen, uns aus dem Waisenheim herauszuholen.

Die Zeit verging und die Lage in Samarkand verbesserte sich, so dass unsere Verwandten sich dem Vorhaben widmen konnten, uns aus dem Heim zu holen. Eines Tages kam der lang erwartete Brief an. Sie waren bereit, uns abzuholen. Aber zunächst mussten bestimmte Dinge organisiert werden. Um uns abzuholen, musste jemand durch Moskau reisen, aber man durfte Moskau nicht ohne einen Passierschein betreten. Riva musste eine Genehmigung vom Waisenheim bekommen und diese nach Samarkand schicken, und nur dann konnte jemand abgesandt werden, um uns zu holen.

Die Sekretärin des Waisenheims hieß Vera Aronowa (die Tochter Arons), offensichtlich eine Jüdin. Leider hatte sie eine miese Lebenseinstellung und sie war bei den Kindern unbeliebt. Die Kinder gaben ihr den Spitznamen Vera Woronova, was "Tochter einer Krähe" bedeutete. Wenn sie wütend war und jemanden anschrie, sagten die Kinder zu mir, "Hör mal, wie deine Verwandte kräht."

Riva war jedoch voller Optimismus und Hoffnung, als sie zu ihr ins Büro ging. Hatte Vater uns nicht oft genug gesagt, dass alle Juden eins seien und sich untereinander lieben sollten. Sicherlich würde die Sekretärin schon deshalb die Genehmigung ausstellen. Es stimmt, dass sie früher nie nett gewesen war. Aber das lag wahrscheinlich an der Tatsache, dass sie es nicht so aussehen lassen wollte, als ob sie eine andere Jüdin bevorzugen würde, damit sie nicht deswegen in Verruf kam. "In diesem Fall jedoch," dachte Riva, "wird sie sich freuen, helfen zu können."

Riva sollte ein Schock erwarten. Die Sekretärin weigerte sich unter folgendem Vorwand, einen Passierschein auszustellen: "Dein Cousin ist sicher ein 'Spekulant' (das hieß damals, jemand, der illegale Geschäfte betreibt). Ich bin sicher, dass er keinerlei Absichten hat, euch abzuholen. Er will nur eine Genehmigung ergattern, nach Moskau zu reisen, um seinen illegalen Geschäften nachzugehen. Für solche Absichten", fuhr sie fort, "kann ich keinen Passierschein ausstellen. "

Riva versicherte ihr, dass dies nicht der Fall war. Sie kannte ihren Cousin sehr gut; er war sehr ehrlich, ging immer einer legalen Arbeit nach und machte überhaupt keine Geschäfte. Er sorgte sich sehr um uns und wollte uns wirklich zu sich nach Hause nehmen.

Rivas Worte fielen auf taube Ohren. Vera weigerte sich komplett, eine Genehmigung auszustellen. An einem Punkt begann sie, als Antwort auf etwas, was Riva sagte, zu stottern, "Ya k...", und kam wegen ihres Stottems nicht sofort weiter. Riva dachte, sie würde sagen wollen, "Ya klianius ...", was heißt, "Ich schwöre ...".

Riva dachte blitzartig nach. "Sie will schwören, dass sie mir keinen Passierschein gibt und wenn ich das höre, darf ich sie nicht weiter bedrängen, weil ich sie sonst veranlassen könnte, einen Schwur zu brechen." Sehr schnell steckte sich Riva die Finger in die Ohren und rannte aus dem Büro heraus.

Sie war jedoch nicht bereit, aufzugeben. Jeden Tag aufs Neue machte sie sich auf den Weg zum Büro, und ging der Sekretärin immer wieder auf die Nerven, bis ihr Widerstand schwächer wurde.

Das funktionierte. Eines Tages, als sie wieder im Büro stand, informierte die Sekretärin Riva, dass sie den Passierschein gerade an ihren Cousin abgeschickt hatte. Riva war sich nicht sicher, ob sie ihr glauben sollte oder nicht, aber sie konnte jetzt nichts anderes machen als abzuwarten und zu sehen.

Sie wartete und tatsächlich kam ein Brief aus Samarkand an, dass die Genehmigung angekommen war und ein bestimmter Herr nach Moskau reisen und uns dann abholen würde. Was hätte besser sein können? Unser Leiden näherte sich wirklich seinem Ende! Die Zeit verging, aber keiner kam.

Schließlich kam ein Brief mit traurigen Nachrichten. Der Chassid, der uns hätte abholen sollen, nachdem er seine Geschäfte in Moskau erledigt hatte, hatte die Genehmigung verloren. Sie hatten nun jemanden anderen, der bereit war, die lange Reise zu unternehmen, aber sie brauchten einen neuen Passierschein.

Diese Nachricht schlug Riva wie ein Fels nieder. All die harte Arbeit, die Genehmigung zu erhalten, war vergeblich gewesen. Der Vorwand der Sekretärin, den Passierschein so lange vorzuenthalten, würde nun als gerechtfertigt erscheinen. Jetzt würde sie sagen, dass sie von Anfang an Recht gehabt hätte und sich schlicht weigern, eine neue Genehmigung auszustellen.

Riva hatte Selbstmordgedanken. Nein, nicht im übertragenen Sinne, sondern buchstäblich!

Als erstes überlegte sie, sich vom Dach zu werfen. Es war ein einstöckiges Gebäude und es gab viele Schneewehen. Sie dachte nach und stellte fest, dass sie unter diesen Umständen keinen echten Erfolg haben könnte. Sie würde sich nur schwer verletzen, G-tt behüte, und keiner würde ihr zur Hilfe kommen, und sich stattdessen nur über sie lustig machen, weil sie eine "Zhidowka" ist. Als nächstes überlegte sie, in den Brunnen zu springen, aber wahrscheinlich war da so viel Eis unten, dass sie wieder keinen Erfolg gehabt hätte.

Dann dachte sie an mich, ihre jüngere Schwester. Was würde aus mir werden, wenn sie, G-tt behüte, sich ihr eigenes Leben nähme. Sie erinnerte sich daran, wie vor langer Zeit im Park von Leningrad, als sie ihren Namen nur ein wenig verändern wollte, Soroh ihr das nicht erlaubte.

Damals hatte Soroh gesagt, "Ich bin die Älteste, also bin ich dafür verantwortlich, was mit dir geschieht."

Jetzt war Riva die älteste Schwester, also war sie verantwortlich, was mit mir geschah. Sie beschloss, dass es ihre Pflicht sei, weiterzumachen. Aber sie brauchte eine Stärkung, um das tun zu können. Die Antwort war das Gebet. Sie musste vor Haschem davenen (beten) und Er würde ihr Kraft geben. Sie erinnerte sich noch an einige kurze Gebete, die sie auswendig gelernt hatte. Wie aber kann man davenen (beten), ohne sich mit Nägelwasser zu waschen? Dürfte sie den G-ttes Namen aussprechen trotz unreiner Hände?

In ihrer Verzweiflung ging sie in die Küche und bat die Küchenhilfe darum, den Eimer benutzen zu dürfen, weil sie damit selbst Wasser aus dem Brunnen schöpfen wollte (um Nägelwasser zu erhalten). Die Küchenhilfe war ein nicht-jüdisches Bauernmädchen und die Hälfte ihrer Konversation bestand aus Schimpfwörtern. Wenn es ein anderes Mädchen gewesen wäre, das um den Wassereimer gebeten hätte, hätte sie das sicher abgelehnt aus Angst, dass er gestohlen würde. Die Kinder wurden oft beim Stehlen ertappt. Aber Riva hatte einen Ruf der Ehrlichkeit. Dank ihres guten Rufes überließ die Hilfe Riva den Eimer unter der Bedingung, dass sie ihn nicht aus den Händen geben würde. Das versprach Riva.

Riva hatte als Grund dafür, sich den Eimer auszuleihen, gesagt, dass sie die Spülkästen der Toiletten füllen wollte. Es gab tatsächlich eine Art von Wasserspülung, aber die Kästen waren meist leer, weil das Personal sich nicht darum kümmerte, sie nachzufüllen. Da Riva gesagt hatte, sie würde diese Spülkästen wieder auffüllen, musste sie auch ihr Wort einhalten. Unter großen Schwierigkeiten zog sie einen Eimer mit Wasser aus dem Brunnen und füllte einen der Spülkästen damit. Kaum hatte sie das getan, benutzten all die Kinder, die gerade herumstanden, dieses Wasser sofort, bis für Riva nichts mehr übrig blieb. Sie zog einen zweiten Eimer Wasser herauf, um ihn einzufüllen - mit demselben Ergebnis.

Das Problem lag darin, dass sie nicht wagte, den Eimer aus den Händen zu geben, um sich die Hände zu waschen, weil er ihr dann sicher weggeschnappt worden wäre. Dann wäre ihr Leben nichts mehr wert gewesen. Sie musste den Eimer um ihres eigenen Lebens willen bewachen. Sie brauchte aber auch Nägelwasser. Riva zog einen dritten Eimer und goss trotz der eisigen Temperaturen Nägelwasser direkt vom Eimer auf den Boden beim Brunnen und trocknete ihre Hände an ihrem Mantel. Sobald sie den Eimer in die Küche zurückgebracht hatte, konnten sie beginnen zu davenen (beten).

Das tat sie mit großer Erleichterung und mit viel Gefühl. Sie sagte alles, woran sie sich nur von zuhause erinnern konnte und fühlte sich sehr ermutigt. Dieses Verfahren wiederholte sie mehrere Male, meistens, wenn Verzweiflung und Niedergeschlagenheit sie zu überwältigen drohte, aber jedes Mal gab ihr das Beten neue Kraft.