Der Sommer war gekommen und wir durften im Hof spielen. Riva saß auf den Stufen und sah zu, wie die Welt am Torgitter vorbei zog.
Sie sah einen Mann vorbeigehen, der seltsam angezogen war. Trotz des heißen Wetters trug er einen Mantel, hatte den Kragen aufgestellt und den Kopf eingezogen. Ein zweiter Mann, der ähnlich gekleidet war, ging einige Minuten später vorbei, danach sogar ein dritter. Es schien zuerst verrückt und doch seltsam vertraut. Es erinnerte sie an etwas, und plötzlich wusste sie, was das war.
Sie erinnerte sich, dass dies Juden mit Bärten waren. Im kommunistischen Russland bedeutete einen Bart zu tragen, ständige Selbstaufopferung zu leisten, denn das zog die Aufmerksamkeit des NKWD auf einen. Diese Chassidim trugen Mäntel, damit sie ihre Kragen aufstellen konnten, um ihre Bärte zu verbergen, besonders, wenn sie zur Synagoge gingen oder von dort zurückkamen, was unter höchster Geheimhaltung zu geschehen hatte.
Riva erinnerte sich, wie sie diesen Anblick kannte, als sie noch zuhause gelebt hatte. Zuhause - das war eine lange Zeit her. Jetzt begriff sie, dass diese Chassidim, da heute Schabbat, war, auf ihrem Weg in die Synagoge waren.
Sie hatte eine Idee. Warum sollte sie nicht einen von ihnen anhalten und sie nach Nachrichten von ihren Verwandten fragen? In diesem Augenblick kam jemand vorbei, den sie kannte, Reb Mendel Golumbevitz und seine Tochter Pessia. Die Golumbevitz-Familie waren Nachbarn unserer Cousine Chana und wir mochten uns gegenseitig sehr gern.
Schnell sprang Riva hinüber zum Tor. Sie rief Pessia mehrfach dringend an und begann, mit ihr zu sprechen. Aber Pessia erkannte sie nicht. Rivas Kopf war völlig kahl geschoren (wie bei allen im Krankenhaus), und sicher spielten auch die Monate des Hungers und Leidens eine Rolle dabei, dass sie verändert aussah.
Es gab jedoch noch einen anderen Grund, warum Pessia sie nicht erkannte. Während unser Krankenhaus noch unter Quarantäne stand, kam unsere Cousine Tziwja (die Rebbetzin des Verstorbenen Rabbi Z.S. Dvorkin)1 zu Besuch, kurz vor ihrer Evakuierung. Sie hatte ein Päckchen mit Essen für uns mitgebracht.
Man ließ sie nicht ins Krankenhaus wegen der Quarantäne. Sie fragte nach den beiden Schapiro-Kinder, und meinte damit Riva und mich. Die Schwester sah im Belegregister nach und teilte ihr mit, dass die beiden Schapiro-Kinder gestorben seien (und meinte damit Jizchok and Soroh).
Tziva war sehr aufgewühlt und vergaß in ihrer Aufregung das Lebensmittel-Päckchen. Am folgenden Tag fand eine andere Krankenschwester es. Es war an uns adressiert, und deshalb gab sie es an Riva. Ich muss sagen, dass ich mich gut an das Päckchen erinnere. Wir freuten uns sehr darüber. Jedoch glaubte Tziva aufgrund ihres Besuchs, dass es uns nicht mehr gäbe, G-tt behüte, und das war auch die Nachricht, die sie an unsere anderen Verwandten weitergab.
Pessia kannte alle unsere Familienneuigkeiten, und deshalb glaubte sie nicht, dass wir noch lebten und erkannte uns deshalb auch zunächst nicht. Riva erklärte ihr in allen Einzelheiten Dinge von unserer Familie und unsere Namen, und sagte, dass unser Vater Schaja Schapiro war.
"War er Schaja Karalewitscher?" fragte Pessia.
In Russland wurden die Menschen in jenen Jahren nach ihrem Heimatort genannt. Das machte man aus Sicherheitsgründen so. Falls man, G-tt behüte, vom NKWD verhört wurde und man den Nachnamen einer Person nicht kannte, bestand ein geringeres Risiko, ihnzu verraten.
Unser Vater hieß also der "Karalewitscher", weil er aus Karalewitsch stammte. Pessia, die endlich begriff, wer Riva war, fragte, "Bist du die Tochter des Schaja aus Karalewitsch?" Riva sagte, dass sie das sei, und wir setzten uns zusammen hin und redeten miteinander.
Pessia erzählte uns das Neueste von den Familien. Viele unserer Verwandten, vor allem die jüngeren und die kräftigeren, hatten Leningrad verlassen. Einige blieben, von denen jedoch leider keiner überlebte. Chana und ihre beiden Kinder waren Tod. Tante Fruma und ihr Mann Jizchok waren auch nicht mehr da.
Auch mein Lieblingsonkel, Onkel Gavriel und seine Frau Hinda, waren hinüber gegangen. Mögen sie alle G-tt um Erlösung für das jüdische Volk von Galut (der Exil) durch Mashiach bitten.
Pessia hatte die Adressen unserer Verwandten, die Leningrad verlassen hatten. Am nächsten Tag kam sie und brachte Riva diese Adressen, die den Pass für unsere persönliche Errettung darstellen sollten. Es kam auch noch jemand, Reb Boruch Schifrin Reb Boruch fragte Riva, ob sie wüsste, wer sie war. "Natürlich", gab sie sofort zurück, "Ich bin Riva Schapiro."
"Das weiß ich auch, sagte Boruch Schifrin ruhig, "aber weißt du, wer du wirklich bist? Erinnerst du dich an deinen Vater? Was meinst du, was dein Vater sagen würde, wenn er dich jetzt sehen würde?"
Riva dachte lang und intensive nach. Natürlich erinnerte sie sich an ihren Vater und wofür er stand. Sie schaute sich selbst an, wie sie einen Schlafanzug trug und ihr Haar abgeschnitten war. Während sie zuhause Russisch noch nicht einmal sprechen durften, konnte sie jetzt Boruch Schifrinls Jiddisch kaum verstehen. Im Unterschied dazu sprach sie inzwischen fließend Russisch. Sie gab kein sehr jüdisches Bild ab. Ein schrecklicher Gedanke tauchte in ihr auf, "Was würde Vater sagen, wenn er mich jetzt sähe, er würde womöglich die Welt sofort wieder verlassen, nur weil er mich so sieht." Sie konnte ihm nichts antworten.
Boruch Schifrin sagte uns, dass er in der kommenden Woche Leningrad verlassen würde und schlug vor, uns mit sich zu nehmen. Riva stimmte diesem Plan zu.
Am nächsten Tag kam er wieder, mit einem anderen Vorschlag. Da seine Frau nur zustimmte, eine von uns mitzunehmen, konnte Riva mit ihm mitkommen, während ich mit einem anderen Mitglied der Anash (der Chabad-Gemeinde) mitkäme, der mich bei sich aufnähme. Die Aussicht, voneinander getrennt zu werden war natürlich sehr schmerzlich, aber nachdem sie gerade daran erinnert worden war, was Vater von uns erwartete, und da sie erkannte, dass es vielleicht keine andere Möglichkeit mehr geben würde, unsere nicht-jüdische Umwelt zu verlassen, meinte Riva keine andere Wahl zu haben, als zuzustimmen.
In der Zwischenzeit tauchte die jüdische Ärztin auf. Sie wollte wissen, wer dieser bärtige Mann war und was er hier machte. Riva sagte ihr, dass er Vaters Freund sei und dass sie in der nächsten Woche mit ihm Leningrad verlassen würde, während ich mit einer anderen Familie mitginge. Die Ärztin war völlig schockiert. Nach all den Anstrengungen, die sie gemacht hatte, um uns zusammenzuhalten, würde sie das jetzt nicht so einfach aufgeben. Sie sprach mit der Krankenhausleitung und ihr wurde zugestimmt. Es gab nämlich inzwischen eine neue Anordnung, die besagte, dass Kinder nur zu nahen Verwandten entlassen werden könnten. Auf keinen Fall würde uns erlaubt, mit Boruch Schifrin mitzugehen.
Am nächsten Tag kam Boruch Schifrin wieder vorbei. Da er uns nicht mitnehmen konnte, nahm er Riva das Versprechen ab, Kontakt mit unseren Verwandten aufzunehmen, indem sie ihnen schrieb, um so sicherzustellen, dass wir nicht verloren gingen, G-tt behüte.
Als wir aus dem Krankenhaus entlassen wurden, brachte man uns in ein Waisenheim. Bald nach unserer Ankunft dort erkältete sich Riva und wurde krank. Nachdem sie in ihrem jungen Leben schon so viel Tod miterlebt hatte, waren ihre Gedanken nie allzu weit von diesem Thema entfernt. Sie befürchtete, dass sie nicht wieder gesund würde, G-tt behüte, und meinte, gewisse Vorkehrungen treffen zu müssen.
Da ihr klar war, dass die Adressen, die Pessia ihr gegeben hatte, das einzige Mittel waren, wie wir unsere Verwandten je erreichen und wieder ein jüdisches Leben führen konnten, wollte sie sich nun besonders absichern, dass die Adressen gut verwahrt waren. Da sie krank war, fand sie es klüger, sie mir vorübergehend zu übergeben.
G-tt sei Dank ging es ihr nach einiger Zeit besser. Als sie sich kräftiger fühlte, bat sie mich, ihr die Adressen wieder zu geben, weil nun sie die Verantwortung dafür übernehmen wollte. Als ich die kostbaren Papiere unter meiner Matratze hervorholen wollte, stellte ich fest, dass nur noch eine dort war, die von unserem Cousin Eisik in Samarkand. Die anderen Adressen waren verschwunden. Das war ein großer Schock.
Da Riva begriff, wie leicht auch diese letzte Adresse verloren gehen konnte, entschied sie sich, sie an einem anderen Ort zu verwahren. In Russland war es in jenen Tagen für Kinder üblich, eine kleine Stofftasche an einer Schnur über der Schulter zu tragen, um dort kleine Dinge und Taschentücher aufzubewahren. Eine solche Tasche wäre genau richtig, um eine Adresse aufzubewahren, aber keine von uns beiden besaß eine solche. So schickte Riva mich zum Wäschezimmer, um dort zu fragen, ob sie eine Tasche für uns hätten. Außerdem spürte Riva die Kälte am Kopf (aus Hygienegründen waren allen Kindern die Haare abrasiert worden und man trug eine Glatze), und so bat sie auch um eine Mütze, um ihren Kopf warm zu halten.
Das Personal im Wäschezimmer gab ihr eine Mütze, aber statt einer kleinen Hängetasche gaben sie uns ein Säckchen. Von diesem Tag an lebte die Adresse unseres Cousins in diesem Säckchen und auch die Mütze wurde dort hineingesteckt, wenn sie gerade nicht gebraucht wurde.
Fußnoten
1.
Er war der Rav der Lubawitscher-Gemeinschaft in New York.
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