Am 22. Juni 1941, um 4 Uhr früh, brach der Krieg in Russland aus. Bereits vor dem Krieg gab es nie reichlich Nahrungsmittel und man musste sich immer für alles anstellen; mit dem Kriegsbeginn wurde jedoch sofort die Rationierung eingeführt. Am Anfang konnte jeder nur 250 Gramm Schwarzbrot und eine kleine Menge an Waren auf Ration erhalten.
Unter den Waren waren auch nicht-koschere Produkte. Vater versuchte, die nicht-koscheren Artikel gegen Reis oder anderes Getreide umzutauschen. Die nicht-koscheren Fleischprodukte waren auf dem Markt sogar mehr wert als Getreide und manche Leute machten aus den Tauschaktionen ein Geschäft. Ein junger Mann, der diese Art von Geschäften betrieb, nahm unsere nicht-koscheren Waren und versprach uns, am nächsten Tag Reis stattdessen zu bringen. Die Tage vergingen und der junge Mann tauchte nicht auf.
Eine Woche später wurden weitere nicht-koschere Waren an die Menschen ausgegeben. Unser Freund tauchte voller Entschuldigungen wieder auf und sagte, dass er unsere Sachen nehmen würde und am nächsten Tag mit zwei Wochen Vorrat an eingetauschten Produkten wiederkäme. Man glaubte ihm und gab ihm die nicht-koscheren Waren auch dieses zweite Mal. Er kam nie wieder zurück, und schickte uns auch keine Lebensmittel; wir waren offensichtlich hereingelegt worden.
Als Vater fünfundvierzig Jahre alt wurde, verlor er keine Zeit, zum Kriegsamt zu gehen und eine "weiße Karte" zu erhalten. Diese weiße Karte war eine Freistellung vom Dienst in der Armee. Am Tag, nachdem er das begehrte Papier erhielt, erließ Stalin eine neue Regelung, dass "weiße Karten" erst ab dem 50. Lebensjahr ausgestellt wurden. Da Vater die weiße Karte schon in der Hand hielt, fiel er nicht mehr unter diesen neuen Erlass.
Die Leute flohen aus Leningrad in Massen. Jedoch durften nur Männer, die eine weiße Karte hatten, Leningrad offiziell verlassen. Das diente, um sicherzustellen, dass die Männer auch da waren, wenn sie in die Armee berufen wurden. Viele Männer, die keine Freistellung hatten, flohen dennoch, aber unter falschen Namen. Das war eine sehr riskante Unternehmung. Vater half vielen Menschen bei ihren Evakuierungsbemühungen, aber wie stand es um ihn? Er war ja amtlich berechtigt, Leningrad zu verlassen - warum machte er es nicht?
Falls man Leningrad verlassen hätte, was hätte einen erwartet? Wie hätte man Schabbat einhalten, wie koscher bleiben können, und so fort? Was die Schule betraf, war es einfacher in einer großen Stadt wie Leningrad am Schabbat fernzubleiben, als an einem kleinen Ort, wo jeder jeden kannte. Die Evakuierung war spirituell zu riskant, also blieben wir in Leningrad.
Die Deutschen schlossen Leningrad ein und bombardierten es unablässig. Eines Tages ließen sie Feuerbomben auf die Lebensmittellager fallen, die in Flammen aufgingen.
Der Hunger war überall. Die Brotrationen wurden drastisch auf 125 Gramm pro Person pro Tag gekürzt. Der Winter fing sehr hart an. Keine Nahrungsmittel, keine Heizung -nur Bomben gab es in Hülle und Fülle. Die Straßen lagen voller Leichen. Das war schiere Verwüstung auf ihrem Höhepunkt.
Im Buch "Im Schatten des Kreml" beschreibt Reb Boruch Schiffrin die Situation in Leningrad während der Blockade viel besser, als ich es je könnte.
Vater wurde krank.
Ich möchte euch zwei neue Nahrungsmittel kurz vorstellen, "Makucha" und "Duranda". Wenn man Öl aus Sonnenblumen extrahiert, werden die Samen bis zum letzten ausgepresst, und dann bleibt eine sehr harte Masse übrig, die vor dem Krieg an das Vieh verfüttert wurde. Diese Masse nennt man Makucha. Manche Sonnenblumen wurden mit den Schalen rund um die Kerne ausgepresst, und die Restmasse war wirklich sehr hart und rauh. Anderes Öl wurde aus den geschälten Sonnenblumenkernen extrahiert, und die Restmasse war besser und feiner; diese nannte man Duranda.
Als der Hunger begann, wurden Makucha und Duranda Teil unserer Ernährung, vor allem das harsche, harte Makucha. Diese sogenannten Lebensmittel verursachten schlimme Dinge im Magen und führten zu starker Verstopfung. Vater war davon besonders betroffen und ich erinnere mich noch gut an sein lautes schmerzerfülltes Stöhnen.
Ein weiteres Merkmal und eine Qual unseres täglichen Lebens war das Schlangestehen bei Minusgraden, um die tägliche Brotration zu erhalten. Man musste um 6 Uhr früh beginnen anzustehen.
Falls man nachlässig genug war, zu den Läden zu gehen, kurz bevor sie öffneten, bestand das Risiko, dass man kein Brot mehr an diesem Tag bekam, also ohne eine lebens- rettende Versorgung. Die Läden hatten nicht genug Brot in ihrem Vorrat, um alle Rationen ausgeben zu können. Wer zuerst kam, bekam sein Brot, es sei denn, dass man das Pech hatte, G-tt behüte, von seinem Platz in der Schlange weggestoßen zu werden.
Es gab eine Menge Diebstahl; Hunger bringt mit Sicherheit nicht das Beste im Menschen hervor. Manche fabrizierten eine dünne Stange, mit der sie kunstfertig in die Einkaufskörbe anderer stachen, das Brot festhakten, und es heimlich in ihre eigenen Körbe brachten. An einem Freitag verschwand unser Schabbat-Brot auf diese Weise; nur zwei kleine Stücke blieben übrig, und die verwendeten wir für Lechem Mishna (die beiden traditionellen Schabbat-Brotleibe). Jemand spendete uns ein sehr schönes Stück Duranda, wofür wir sehr dankbar waren.
Vater wurde schwächer; er musste im Bett bleiben und versank oft in ein Delirium. Jud Tes Kislew1 kam, dem letzten von Vater in dieser Welt.
Die folgende Geschichte hörte ich von Reb Peretz Beresin, dem Vater von Peche Chayne. Reb Peretz, sein Vater und noch ein paar Chassidim entschlossen sich, Jud Tes Kislew mit unserem Vater zu verbringen, da sie gehört hatten, dass er krank war. Einem von ihnen gelang es, eine kleine Flasche Maschkeh, (ein alkoholisches Getränk, meistens Vodka) zu bekommen, ein anderer brachte etwas Hering und sogar einige Latkes, und sie machten sich auf den Weg zu unserer Wohnung. Sie stellten fest, dass unsere Wohnung dunkel, kahl und buchstäblich gefroren war. Vater war im Delirium im Bett und beachtete seine Umgebung nicht.
Sie gingen wieder weg und versuchten, Heizmaterial zu finden. Nach langer Suche fanden sie in einem Lagerhaus eine alte Holztür. Trotz der Gefahr für sie (sie hätten dafür eine schwere Gefängnisstrafe erhalten können), schleppten sie die Tür mühsam an ihren Bestimmungsort, machten Feuerholz daraus und fingen an, unser Heim zu heizen. Der Raum wurde etwas wärmer, sie näherten sich meinem Vater und riefen ihn bei seinem Namen und verkündeten, "Heute ist Jud Tes Kislew".
Der Ruf zum Jud Tes Kislew drang in sein Bewusstsein und er wachte auf. Nicht nur das, sondern er konnte sich sogar aufrecht hinsetzen und am Farbrengen (chassidischen Versammlung) teilnehmen, das eine längere Zeit andauerte. Das Feuer des Chassidismus überkam ihn somit wieder nur drei Tage vor seinem Abschied aus dieser Welt, obwohl er todkrank war und im Angesicht des Todesengels stand.
Vor dem Krieg hatten wir viele Farbrengens zuhause, und sie waren gekommen, um die chassidische Flamme zu erneuern und wieder zu entzünden. Nur die Worte Jud Tes Kislew waren genug, um meinen Vater aus seinem Delirium zu erwecken und ihn in den Stand zu versetzen, am Farbrengen teilzunehmen.
Kurz nach Jud Tes Kislew wurde Vater von seinem Leiden "erlöst". Nur G-tt weiß, warum er diese Welt zu einem so vorzeitigen Alter verlassen musste. G-ttes Wege sind jenseits unseres Verstands. Unser Auftrag besteht darin, in den Fußstapfen des Vaters zu folgen und die Werte weiter zu vermitteln, die er uns beigebracht hat, uns, seinen Nachkommen. Kurz: seine Lehren lebendig zu erhalten.
Möge sein Verdienst uns schützen.
Kurz bevor er uns verließ, sagte Vater unserer Mutter, dass, falls mehr nicht-koschere Waren auf Bezugsschein ausgegeben würden, wir sie tatsächlich nehmen und essen sollten, aufgrund von Pikuach Nefesh (Gefahr, das Leben zu verlieren). Ich kann mir nicht vorstellen, wie viel Überwindung es ihn gekostet haben muss, eine solche Anweisung zu geben2. Ich weiß nicht mehr, ob es am Ende mehr solcher Waren überhaupt gegeben hat oder nicht.
Am 23. Kislew endete Vaters Leiden. Seine reine Neschama (Seele) wurde mit ihrem Schöpfer wieder vereinigt. Riva war die erste, die ihn fand. Sie wachte in der Mitte der Nacht auf und bemerkte, dass Vater auf seinem Bett liegend sehr merkwürdig aussah. Sie weckte Mutter auf. Mutter kauerte sich am Bett nieder, betete um Vaters Mechilah (Vergebung)3 und Riva verstand nichts. Was sollte all das bedeuten?
Sie weckte die älteren Kinder auf, "Mit Papi stimmt etwas nicht, aber ich weiß nicht, was." Das Zimmer war bald von Weinen erfüllt, "Wir haben keinen Vater mehr." Riva verstand das nicht.
Jizchok war sehr schwach und bettlägerig. Jetzt wollte er aufstehen und bat Riva, ihm dabei zu helfen. Sie brachte ihm Negelwasser4, um seine Hände zu waschen, und versuchte alles, ihm zu helfen, aber seine Arme und Beine gehorchten nicht, er konnte sie einfach nicht heben.
Mutter kam weinend dazu, "Wir haben keinen Vater mehr". Vaters Gesicht war jetzt bedeckt. Riva begriff trotzdem noch nicht. "Er ist hier im Zimmer; wie könnten wir ihn nicht mehr haben?"
Fußnoten
1.
Jud Tes Kislew - 19. Kislev. Der Tag, an dem der erste Chabad Rebbe aus dem Gefängnis freikam. Für die chassidische Gemeinschaft ist dies ein bedeutender historischer Tag.
2.
Da er keine nicht-koscheren Rationen aß, solange er lebte, aß auch seine Familie solche nicht.
3.
Es ist eine Sitte, die Verstorbenen um Vergebung zu bitten, damit, falls es irgendwelche Missverständnisse gegeben haben sollte, diese nicht in die andere Welt hinüber getragen würden.
4.
Wasser, um die rituelle Waschung der Hände beim Aufstehen oder vor dem Gebet durchzuführen.
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