Am nächsten Tag waren Riva und ich an der Reihe, in das Krankenhaus zu gehen. Chana kam wieder, um uns hinzubringen. Tante Fruma machte uns eine heiße Suppe aus Makucha, um uns für die Reise zu stärken. Mit beiden von uns auf dem Schlitten schaffte es Chana nicht, uns zu ziehen. Sie bat Riva, abzusteigen und zu gehen. Riva tat es, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht; sie hatte keine Kraft mehr zu gehen. Also wurde sie wieder auf den Schlitten gesetzt und Chana zog erneut mit ihrer allerletzten Kraft. Sie ging sehr, sehr langsam, Schritt für Schritt, und kam nicht vor Abendeinbruch beim Krankenhaus an. Sie weigerten sich, uns hinein zulassen und sagten, wir sollten am nächsten Morgen wiederkommen.

Neben dem Krankenhaus war eine Synagoge. Im Hof der Synagoge waren tote Körper aufgeschichtet, Männer auf der einen Seite, Frauen auf der anderen. Ich denke, das Risiko der Verwesung war sehr gering, weil der Frost so streng war. Aber weil die Temperaturen so weit unter Null lagen, gab es auch keine Möglichkeit, die Leichen zu begraben. Es gab Probleme, Transportmittel zu organisieren, und ich glaube, man hatte vor, die Körper bis zum Frühling im Hof zu lassen, wenn das Tauwetter begann.

Als wir in den Hof kamen, wurden wir mit diesem Anblick konfrontiert. Riva sah Mutters Körper dort bei den anderen liegen, noch nicht von Schnee bedeckt. Sie schrie und wollte zu ihr gehen, aber Chana hielt sie zurück und sagte ihr, sie sollte nicht dorthin schauen. Riva versuchte, Vaters Körper zu sehen, fand ihn aber nicht.

Chana nahm uns in die Synagoge, um dort die Nacht zu verbringen. Die Männer machten es uns so bequem wie möglich, auf einer großen Truhe, dem besten Platz. Die anderen schliefen einfach am Boden. Am morgen waren zwei von ihnen Tod.

Am Morgen kam Chana zurück, um uns in das Krankenhaus zu bringen. Diesmal wurden wir eingelassen, und das war auch das letzte Mal, dass wir unsere Cousine Chana sahen.

Im Krankenhaus wurden wir gebadet und ins Bett gesteckt. Als Riva endlich im Bett war, fragte die Schwester sie, ob alles in Ordnung sei, und sie antwortete ja. Dann ging die Schwester. Über Riva schien eine Art von Licht zu sein. Sie fühlte sich, als ob sie tiefer und tiefer sank. Dann hörte sie eine Stimme, die "Riva!" rief.

Riva dachte, "Das muss ein Engel sein, der mich zu Vater ruft," und sie war von Freude erfüllt.

"Ich komme!" dachte sie. Was jedoch in Wahrheit geschah, war, dass sie halbbewusst war und Gefahr lief, das Bewusstsein ganz zu verlieren, G-tt behüte.

Die Stimme rief ein zweites Mal, "Riva!"

Riva dachte, "Das ist komisch. Der Engel sollte mich doch erkennen, ein Engel weiß alles."

Dann hörte sie die Stimme ein drittes Mal, "Riva, warum antwortest du mir nicht?"

Dieses Mal erkannte sie Sorohs Stimme. Durch ihr beharrliches Rufen hatte Soroh Riva wieder ins Bewusstsein zurückgebracht und wahrscheinlich ihr Leben gerettet.

Soroh war glücklich, Riva bei sich zu haben und schalt sie, dass Riva ihr nicht gleich geantwortet hatte. Sie redeten einige Zeit miteinander. Als erstes wollte Soroh wissen, wie es Mutter ging. Riva musste ihr die Wahrheit sagen. Dann fragte Riva nach Jizchok und Soroh sagte ihr, dass er auch Verstorben war.

In der Zwischenzeit kam die Schwester zurück und legte etwas Weiches und Flaches auf ihren Nachttisch. "Was ist das?" fragte Riva Soroh.

"Das ist doch Brot", antwortete Soroh. Da sie mit Schwarzbrot aufgewachsen war, das völlig anders aussah, erkannte Riva eine Scheibe Weißbrot nicht. Sie war ganz erstaunt. "Brot? Ist das, ist das ALLES für mich?"

"Natürlich ist das alles für dich, antwortete Soroh.

"Darf ich es essen?" fragte Riva ungläubig.

"Natürlich darfst du es essen, wenn du das kannst", fügte Soroh hinzu. Riva sprach den Segen Hamotzee und aß ihre Scheibe Brot. Neue Stärke schoss in ihren Körper hinein. Ihr Leben war gerettet. Riva fragte Soroh dann, "Was hast du gemeint, als du sagtest, ich darf das Brot essen, wenn ich das kann?"

Soroh erklärte ihr daraufhin, dass sie selbst nicht mehr essen könnte. Riva wurde laut und schrie sie an, dass sie essen müsste. Mutter hörte auf zu essen und sie starb. "Du musst essen", beharrte Riva. Aber Soroh wiederholte nur, dass sie nicht mehr essen könnte.

Ihren Betten standen etwas auseinander, und da Soroh Riva sehen wollte, bat sie Riva, sich eine Weile aufzusetzen. Riva versuchte das, schaffte es aber nicht. Sie war zu schwach dazu.

Soroh sagte, "Vielleicht kann Mussischke sich aufsetzen, damit ich sie sehen kann," und sie baten mich, im Bett zu sitzen.

"Das kann ich nicht," war meine Antwort.

Dann hatte Riva eine Idee: "Warum setzt du dich nicht auf, Soroh, damit du uns sehen kannst?" Soroh lachte, "Ich kann das doch schon gar nicht mehr."

Da lagen wir also, ans Bett gefesselt. Wir müssen etwas geschlafen haben, denn später in der Nacht wachte Riva auf und hörte, wie Soroh sie rief, "Riva, bitte ruf die Schwester für mich."

Riva tat, wie sie gebeten worden war, aber als die Schwester zu Soroh kam, schien sie zu schlafen, und die Schwester ging wieder fort.

Kurz darauf bat Soroh wieder, die Schwester zu rufen. Riva rief nach der Schwester, aber wieder reagierte Soroh gar nicht auf sie, als sie hereinkam, sondern schien zu schlafen. Die Schwester ärgerte sich über Riva, dass sie völlig grundlos gerufen worden war und drohte ihr, sie in den Schnee hinaus zu werfen, wenn sie das wieder täte. Riva bekam es mit der Angst zu tun und fragte sich, was sie wohl tun sollte, wenn Soroh sie wieder darum bäte. Aber Soroh bat sie nicht mehr.

Am Morgen, als Riva aufwachte, sah sie, wie weiß gekleidete Ärzte und Schwestern um Sorohs Bett standen.

Der Oberarzt fragte die Nachtschwester, ob sich Sorohs Zustand in der Nacht veränderte hatte oder ob sie um irgendetwas gebeten hatte. Die Schwester gab zurück, dass sich in der Nacht nichts Ungewöhnliches ereignet hätte. Dann sagte der Arzt, dass man rasch handeln müsse, bevor die anderen Kinder aufwachten. Dann gingen die Ärzte und eine Schwester blieb zurück. Sie wickelte Soroh in ein Laken und trug sie fort.

Da begriff Riva, dass Soroh gegangen war, und sie beneidete Soroh, weil sie schon um bei unserem Vater war. Riva entschied dann, dass sie als nächste dran wäre, und sie freute sich darauf. Die nächste Welt schien ein sehr viel besserer Ort zu sein, der sie auf attraktive Weise zu sich einlud.

Ich erinnere mich auch, dass Soroh aufwachte und Riva bat, die Schwester zu rufen. Der Klang ihrer Stimme schockierte mich ziemlich. Sie hatte einen schrecklichen Ton, überhaupt nicht wie der Klang ihrer Stimme sonst. Es war mir in den Sinn gekommen, dass das Ende nahe sein könnte, aber ich hatte den Gedanken schnell verabschiedet.

Zu einem späteren Zeitpunkt fiel ein Schrapnell in unsere Station. Obwohl damals keiner direkt verletzt wurde, entschied die Krankenhausleitung, dass diese Station gefährdeter lag als die anderen, und deshalb sollten die Kinder auf andere Stationen verlegt werden. Am Umzugstag waren die drei letzten Betten, die verlegt wurden, das eines Jungen namens Mendel B., den wir gut kannten, Rivas Bett und meines.

Damit wurden wir zu Nachbarn. Das war das erste Mal, dass ich mich länger mit meiner Schwester unterhalten konnte und nach Soroh Fragen konnte. Sie bestätigte meinen Verdacht, dass sie nicht mehr in der Welt der Lebenden weilte und sie berichtete mir auch von Jizchok.