Am nächsten Tag war Soroh an der Reihe, sich für die täglichen Brotrationen anzustellen. Sie fühlte sich nicht gut, ging aber trotzdem. Während sie geduldig in der Schlange stand, wurde ihr Gemüt von unserem tragischen Verlust völlig überwältigt und sie bemerkte nicht, dass sie die Bezugsscheine aus der Hand verlor. Erst, als sie im Laden an der Reihe war, erkannte, sie, was geschehen war. Da war es schon zu spät. Eine scharfäugige Person in der Schlange hatte sie schnell vom Boden aufgesammelt und war schnell verschwunden. Mit gebrochenem Herzen und unkontrolliert schluchzend kam Soroh nach Hause.

"Meinetwegen wird keiner etwas zu essen haben," weinte sie bitterlich.

Mutter versuchte ihr Bestes, sie zu trösten und ihr zu versichern, dass es nicht ihre Schuld war. "G-tt hat es so gewollt", insistierte sie immer wieder. Soroh konnte dafür in keiner Hinsicht verantwortlich gemacht werden. Das war etwas von G-tt.

Unsere Cousine Chana1 kam vorbei und brachte etwas Reis in einer Tasse, um unserer brotlosen Familie etwas Lebenserhaltendes zu geben. Der Reis wurde gekocht und zu einer wässrigen dünnen Suppe gemacht; in jeder Portion schwebten einige wenige Reisstücke in einer weißen Flüssigkeit. Aber wie diese genossen wurde! Ich glaube, es war Jizchok, der ausrief: "Heute haben wir ein Festmahl wie ein König."

Am nächsten Tag kam Chana mit einem kleinen "Kissell", einer Art Obstsuppe ohne Obst, so etwas wie rosafarbene flüssige Soße. Es gab natürlich kein Stückchen Brot im Haus. Am dritten Tag kam Chana nicht mehr; sie hatte nichts mehr übrig, was sie bringen konnte. Am dritten Tag kam unsere Tante Fruma. Sie lebte am Stadtrand von Leningrad und kam, sobald sie unsere tragischen Nachrichten gehört hatte. Es fiel ihr schwer, sich bis uns durchzuschlagen, aber sie schaffte es trotzdem.

Als sie vom Verlust unserer Bezugsscheine hörte, bestand sie sofort darauf, dass Mutter die Mädchen zum entsprechenden Amt schickte, um den Verlust zu melden und hoffentlich neue Coupons zu bekommen.

Soroh ging es damals schon sehr schlecht; der Hunger hatten seinen Tribut gefordert. Der herzzerreißende Verlust der Coupons hat ihren Zustand zweifellos noch verschlimmert. Sie war also sehr schlecht dran2. Als Tante Fruma Mutter davon überzeugen wollte, zur Behörde zu gehen, wollte Mutter Soroh nicht schicken, weil das bedeutet hätte, dass Soroh für die Situation verantwortlich gewesen wäre, und Mutter wusste, dass das nicht stimmte. Also sagte Mutter, "Lass die Mädchen in Frieden. Es hat gar keinen Sinn, sie dieser Qual zu unterziehen, zum Amt zu gehen, wenn man ihnen höchstwahrscheinlich ohnehin nicht glauben wird. Ich habe von vielen Fällen gehört, dass Leute ihre Bezugsscheine verloren und nie Ersatz dafür bekommen haben."

Tante Fruma begann zu rufen, "Bluma, die Kinder haben seit drei Tagen kein Brot gehabt! Heute ist erst der 13. Dezember, was wirst du im nächsten Monat tun?" Mutters Antwort war kühl und ruhig, "Boruch Haschern (G-tt sei gedankt), wir haben noch Wasser im Hahn."

Manche Familien hatten nämlich nicht das Glück, fließend Wasser zu haben, weil die Leitungen gefroren waren, und sie mussten einige Entfernung weit durch den Schnee stapfen, um Wasser für ihren täglichen Bedarf zu holen. Unser Vater wies uns an, bevor er krank wurde, den Wasserhahn in diesem Eiswetter immer etwas laufen zu lassen, weil das Wasser in der Leitung sonst einfrieren würde.

Ihr müsst verstehen, dass trotz der Strenge des Winters unser Heim völlig ohne Heizung war. Dank des Vorausblicks unseres Vaters hatten wir fließend Wasser. Unsere Mutter, die in besseren Zeiten gewillt gewesen war, Gefängnis zu riskieren, damit ihre Kinder eine bessere Ernährung hätten (siehe Teil Eins), besaß jetzt, als es keinen Brocken Brot oder irgendeine andere Form von Nahrungsmittel in unserem Heim gab, die Stärke, "Boruch Haschern (G-tt sei gedankt)" zu sagen, voller Zuversicht und Vertrauen, dass wir fließend Wasser hatten.

Dieses "Boruch Haschem" (G-tt sei gedankt) hinterließ bei Riva einen tiefen und bleibenden Eindruck. Durch all die verschiedenen Härten und Nöte der kommenden Jahre, gab ihr dieses erhabene "Boruch Haschem (Gtt sei gedankt)" die Kraft und den Mut, alle Probleme und Schwierigkeiten zu überwinden, die ihr das Leben reichte. Noch heute ist die Kraft dieses "Boruch Haschem" (G-tt sei gedankt) genauso wirksam wie es in all jenen Jahren früher war, und seine Botschaft ist genauso klar. "Erinnere dich immer daran, G-tt aus deinem ganzen Herzen dafür zu danken, was du hast und was du bist."

Um auf Tante Fruma zurückzukommen: sie war nicht bereit, aufzugeben und die Familie dahin gehen zu lassen, G-tt behüte, ohne Brot. Sie nahm Soroh zur Seite und sagte ihr leise, "Natürlich war es nicht deine Schuld, die Bezugsscheine zu verlieren, wenn du aber zustimmen würdest, zur Behörde zu gehen, um zu versuchen, Ersatz zu bekommen, würde das der Familie zeigen, dass du dich um sie kümmerst und dein Bestes für sie versuchst. Der gute Willen, den das erzeugt, wird die Anstrengung wert sein."

Dieser Zugang funktionierte, und Soroh war bereit zu gehen. Tante Fruma, Soroh und ich gingen also los. Tante Fruma und Soroh waren vor Hunger stark angeschwollen, während ich vermutlich das kindliche Bild bot, nämlich ein kleines Mädchen ohne irgendeinen Krümel Brot, welches Mitleid ganz sicher verdient. G-tt sei Dank hatten wir Erfolg. Man glaubte uns und wir bekamen neue Bezugsscheine. Für jene von uns, denen es bashert (bestimmt) war zu überleben, war dies eine Rettungsleine, wahrend Haschem (G-tt) die anderen zu Ihm zu nehmen bestimmt hatte.

Nachdem unser Vater diese Welt verlassen hatte, machte unser Jizchok schon Pläne für uns alle, Leningrad zu verlassen und an irgendeinen sicheren Ort zu fliehen, um zu überleben. Mutter musste ihn sanft bremsen, "Lass uns erst einmal aus unseren Betten aufstehen können, bevor wir versuchen, die Stadt zu verlassen."

So wie es stand, war Jizchok schon bettlägerig und Mutter konnte sich nur sehr langsam in der Wohnung bewegen, einen schmerzvollen Schritt nach dem anderen. Bald hörte sie überhaupt auf, herum zu gehen und blieb im Bett. Dann hörte sie auf zu essen.

Wiederum kam unsere Cousine Chana zur Hilfe, die selbst hungerte. Sie war eine Witwe mit zwei behinderten Kindern, fand aber trotz ihrer eigenen Probleme Zeit und Kraft (ihre allerletzte Kraft), uns täglich zu besuchen und alles zu tun, was notwendig war, um zu versuchen, unser Leben zu retten.

Jizchok musste ins Krankenhaus gebracht werden und Chana brachte ihn auf einem Schlitten dorthin, zog in der frierenden Kälte und vom Schnee behindert dorthin. Eine Woche später tat sie dasselbe für Soroh.

Eines Tages kam Tziya [Dvorkin],Chanas Schwester, mit traurigen Nachrichten zu uns. Sie und Chana flüsterten darüber, ob sie Mutter berichten sollten, dass Jitzchok Verstorben war. Zu Recht entschieden sie sich dagegen. Damals konnte Mutter ohnehin schon nicht mehr hören.

Es war der 11.Teves. Riva lag auf dem Klappbett neben Mutters Bett und beobachtete sie. Sie sah und hörte, wie unsere Mutter ihren letzten Atem ausatmete.

Ich möchte auch meine eigenen Erinnerungen daran beschreiben, obwohl sie nicht sehr klar sind. Ich erinnere mich schwach an ein Bett neben dem Bett von Mutter und ich weiß, dass Mutter uns auch verlassen hat. Auf diesem zweiten Bett liegt Riva und schluchzt und ich liege hinter ihr. In meiner undeutlichen Erinnerung scheint es mir, als ob auch Soroh auf dem Bett liegt und weint; das ist aber nicht möglich, weil sie damals schon im Krankenhaus war. Ich erinnere mich noch an eine Person, die weinte, und ich nehme an, dass es Tante Fruma war.

Ich erinnere mich daran zu denken, "Sie weinen und ich nicht; warum?" Ich fühlte mich schuldig, aber ich konnte nicht weinen. Wie auch, wenn ich das riesige Ausmaß unseres Unglücks gar nicht annehmen konnte. In meinem Sinn gehörten eine Mutter und ihre Kinder zusammen. Ich konnte ein Leben ohne Mutter für ein kleines Mädchen mir gar nicht vorstellen. Das war einfach undenkbar. Also akzeptierte irgendetwas in mir die Wirklichkeit unserer Situation nicht. Obwohl ich mir im allgemeinen dessen bewusst war, dass der Tod scheinbar etwas ziemlich Endgültiges ist, konnte ich gleichzeitig doch nicht die Tatsache annehmen, nie wieder eine Mutter zu haben.

Die Sehnsucht nach Maschiach (Messias) war in unserem Heim sehr gegenwärtig, weil Vater beständig über ihn sprach und ihn täglich erwartete. Ich wusste natürlich, dass der Ankunft von Maschiach die Auferstehung der Toten folgte. Dieser Gedanke gab mir Kraft. Ich klammerte mich an dieses Wissen mit der Verzweiflung einer Ertrinkenden, die an allem festhält, selbst an einem Strohhalm. Ich entschied, dass Mutter uns nur vorübergehend verlassen musste, denn wie kann das Leben sonst ohne Mutter weitergehen?

Nach dem Ableben Mutters wurde das Zimmer sehr still und düster. Die Gefühle von Verlustes und Trauer wurden überwältigend und unerträglich. Nur um die Atmosphäre etwas aufzuhellen, stellte Riva das Radio an. Ein fröhliches Lied kündigte das Neujahr 1942 an. Das ging ihr an die Nerven und sie schaltete es ärgerlich wieder aus.