Leningrad wurde von den Deutschen umschlossen und die einzige Fluchtroute ging über die Neva, einen großen Fluss. Das Waisenheim sollte an einen sicheren Ort evakuiert werden. Schließlich kam der Tag des Abtransports, und wir alle sowie Kinder aus einem anderen Heim gingen an Bord eines Schiffes und wir ließen Leningrad hinter uns. Die Überfahrt war normalerweise ziemlich gefährlich aufgrund häufigen Beschusses, aber G-tt sei Dank verlief sie ungestört und wir erreichten das andere Ufer.

Nach vier Stunden Eisenbahnfahrt kamen wir in ein kleines Dorf, nicht zu weit entfernt von Moskau, das "Urshell" hieß. Wir wurden in unser neues Waisenheim einquartiert. Alle Kinder sollten ihre Habe in einem großen Raum ablegen, der dann aus Sicherheitsgründen abgeschlossen würde, bis wir uns in den Schlafsälen eingerichtet hätten. Später könnte man seine Sachen wieder zurückholen. Riva hatte also keine andere Wahl, als ihr Säckchen zusammen mit allen Sachen der anderen Kinder in diesem Raum abzulegen.

Als wir uns eingerichtet hatten, unternahm sie mehrere Versuche, das Säckchen zurückzubekommen, aber der Raum war verschlossen und angeblich wusste keiner, wo der Schlüssel war. Drei Tage waren inzwischen vergangen, und ein Registrierungsbeamter war aus Moskau gekommen, um die Neuankömmlinge aufzunehmen. Vor seinem Büro bildete sich eine lange Schlange, und alle warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren.

Riva stand auch an und kämpfte mit einem schwierigen Problem. Bald würde sie dem Registrar ihren Namen sagen müssen. Wenn sie sich Riva Schapiro nannte, würde sie damit allen Anwesenden offenbaren, dass sie jüdisch war - und das stellte eine offene Einladung dar, sowohl verbal wie physisch unter Druck gesetzt und misshandelt zu werden. Es würde Schläge und Tritte in Fülle geben, von Hohn und Spott ganz zu schweigen. Das kannte sie alles schon aus ihren früheren Erlebnissen. Was würde passieren, wenn sie einfach einen Buchstaben in ihrem Namen ändern und ihn als Rita oder Rima angeben würde? Dann würde keiner wissen, dass sie jüdisch war und sie würde in Ruhe gelassen. Durfte sie das aber?

Ein Strom an Erinnerungen an früher überschwemmte sie. Vor nicht allzu langer Zeit hatten wir Eltern, ein Heim, und ein Familienleben. Wie gut sie sich an ihre gelegentlichen Besuche im Park erinnerte. Häufig passierte es, dass ein gleichaltriges Mädchen sie aufforderte, zusammen mit ihr zu spielen. Das wollte sie sehr gern, aber sobald sie nach ihrem Namen gefragt wurde und "Riva" sagte, ertönten laute Hohnrufe "Zhidowka" (Jüdin), und einige Tritte folgten, um alles abzurunden. Dann lief sie nach Hause und schüttete unseren Eltern ihr verletztes Herz aus.

Eines Tages kam ihre eine Lösung für das Problem in den Sinn. Beim nächsten Mal, wenn jemand im Park sie nach ihrem Namen fragte, würde sie Rita oder Rima sagen, und dabei nur einen Buchstaben ändern. Das würde sicher nichts ausmachen. Aber dazu brauchte sie die Unterstützung von Soroh. Denn es reichte nicht aus, sich selbst Rita zu nennen, wenn Soroh vorbeikam und sie dann Riva nannte. Dann würde sie als Lügnerin dastehen und noch schlimmer schikaniert werden.

Soroh weigerte sich jedoch völlig. Sie stellte klar, dass ihr das nicht erlaubt war, und wenn Riva darauf bestand, würde Soroh ihren Vater darüber informieren müssen. "Aber Vater hat sicher nichts dagegen, wenn ich nur einen Buchstaben in meinem Namen ändere", protestierte Riva schwach.

Soroh blieb aber entschieden, "Wenn du Vater fragst und er es erlaubt, in Ordnung. Falls nicht, mache ich nicht mit." Riva entschloss sich, Vater zu fragen. Wenn Vater betete oder lernte, durfte ihn keiner stören. Da er immer sehr lange betete, musste man manchmal eine ganze Zeit warten, bevor man die Gelegenheit hatte, mit ihm zu sprechen. Riva ließ sich davon nicht abschrecken und wartete geduldig, bis sie sah, dass er seine Tefillin ablegte, und dann legte sie ihm ihre Bitte vor.

Vater hörte aufmerksam zu, was sie zu sagen hatte, und dann hob er zu einer längeren Erklärung über die Bedeutung eines jüdischen Namens an und wie glücklich sie sich schätzen dürfe, einen Namen mit einer unserer Matriarchinnen Rivkah1 (Rebecca) zu teilen. Riva hörte dem zu, was Vater sagte, konnte aber keinen Bezug zu ihrer eigenen Situation darin erkennen. Alles, was sie wollte, war, im Park zu spielen und nicht angegriffen zu werden ... und was hatte diese ihr unbekannte Frau mit all dem zu tun?

"Alles, was ich möchte", beharrte sie, "ist nur, einen Buchstaben in meinem Namen zu ändern, das ist doch alles."

Vater antwortete ihr, dass sie nach der Rebbetzin Rivka (der Frau des vierten Lubawitscher Rebbes, Rebbe Maharash) benannt war, und wenn dieser Name gut genug für die Rebbetzin war, dann war er mit Sicherheit gut genug für sie. Das war der Schluss der Unterhaltung, den sie akzeptieren musste.

Sie erinnerte sich jetzt auch an ein anderes Ereignis, als die Regierung eine Volkszählung vornahm. Jeder Haushalt wurde von Beamten aufgesucht, die mit jedem Mitglied der Familie sprachen, auch mit den kleinen Kindern. Eine der Fragen war, ob man an G-tt glaubte. Bist du gläubig? Das war für die jüdische Bevölkerung eine große Prüfung. Da das sowjetische Regime Religion nicht anerkannte, hieß es, dass man anti-sowjetisch war, wenn man gläubig war.

Als sie zu unserer Wohnung kamen, achtete Vater nicht nur darauf zu sagen, dass er gläubig war, sondern er trug den Kindem auf, dasselbe zu sagen. Als der Beamte Riva befragte - sie war damals noch sehr klein - ging Vater kein Risiko ein. Bevor sie den Mund öffnen konnte, sagte Vater ein festes "Ja" und natürlich antwortete Riva dann auch mit einem klaren Ja". Das war damals gefährlich. Vater hätte eingesperrt werden können, weil er sein Kind religiös erzog. Der Beamte war über Vaters Eingreifen auch äußerst ungehalten, weil das Kind damit keine freie Wahl mehr hatte, was es sagen wollte.

"Ich kann das nicht leugnen (dass ich einen jüdischen Name habe)", dachte Riva also, während sie in der Reihe stand. Ihre Erinnerungen diktierten ihr, ihren Namen nicht zu ändern, noch nicht einmal einen einzigen Buchstaben. Aber doch war die Situation jetzt anders als damals. Sie war hier allein, ohne Eltem, die sie schützen könnten: wie sollte sie allein mit all den niederträchtigen Verhaltensweisen fertig werden, wenn sie ihren wahren Namen zugab?

Rivas Gedanken wurden durch einen Tritt rüde unterbrochen. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkt hatte, dass sie als nächste dran war, ihren Namen zu sagen. Während sie noch schwankte, was sie sagen sollte, sah sie, wie ihr Vater wie in einem Videofilm zu ihr sagte, "Wenn der Name gut genug für die Rebbetzin Rivka ist, dann ist er gut genug für dich."

Diese Vision2 war ihre Antwort und sie sagte, "Mein Name ist Riva Schapiro."

Eine Welle von höhnischem Gelächter ging durch die Warteschlange hinter ihr. "Zhidowka!" Ein heftiger Fußtritt von hinten schickte sie zu Boden. Sie hatte große Schmerzen und war unfähig, wieder aufzustehen. In Agonie lag sie da und sah ihre Quälgeister. Keiner bot sich an, ihr zu helfen. Es stand auch Personal herum, die aber vorgaben, nichts mitzubekommen. Sie war von ihrer Grausamkeit überrascht. Gedankenvoll betrachtete sie die Reihe der Kinder. Sicher hatten alle irgendwie gelitten. Manche von ihnen hatten vom Hunger aufgetriebene Blähbäuche, und andere sahen im Kontrast dazu sehr abgehärmt und extrem dürr aus, wie Skelette. Und doch haben sie keine Spur von Mitgefühl für die Qualen eines anderen Kindes.

"Wie anders sind wir Juden. Juden helfen sich gegenseitig immer, wie sie nur können. Was mache ich, ein jüdisches chassidisches Mädchen, mitten unter ihnen?"

Riva traf eine klare Entscheidung. Sie wollte ihr Äußerstes tun, um uns beide von diesem Ort wegzubekommen. Sie wollte nicht eher ruhen, bis sie ihr Ziel erreichte und wir beide mit unseren Verwandten und mit dem jüdischen Volk wieder vereint sein würden.

Dazu musste sie als Erstes an unseren Cousin in Samarkand schreiben, ihn wissen lassen, wo wir steckten, und ihn darum anzuflehen, uns hier auf schnellstem Wege herauszuholen. Seine Adresse steckte in ihrem Säckchen, das noch immer in diesem großen verschlossenen Raum lag.

Sie verdoppelte ihre Anstrengungen, den Schlüssel zum Aufbewahrungsraum zu bekommen. Die zuständige Frau behauptete, dass sie den Schlüssel nicht hätte und schickte sie zur Köchin. Die Köchin konnte das gar nicht glauben, dass sie den Schlüssel haben sollte, dass dieser Raum nicht zu ihrem Arbeitsgebiet gehörte. Sie riet, zu einem anderen Mitglied des Personals zu gehen, aber das hatte den Schlüssel auch nicht. Es gab nur noch eine Möglichkeit, zum Direktor selber zu gehen.

Der Direktor war ein Trinker, der oft schlechte Laune und immer eine grobe Hand hatte. Alle hatten große Angst vor ihm. Riva ging ganz entschlossen zu ihm und bat darum, dass sie den Schlüssel haben könnte. Er sagte ihr, dass sie zur zuständigen Frau gehen sollte. Als Riva erklärte, dass sie schon bei ihr gewesen sei, aber ganz erfolglos, antwortete er, "Sag ihr, dass ich dich geschickt habe."

Das "ich" des Direktors funktionierte und sie bekam endlich den Schlüssel. Als sie jedoch die Tür zum großen Aufbewahrungsraum öffnete, war sie völlig entsetzt. Der Raum war leer. Völlig leer. Kein Gepäck, keine Hängetaschen oder Säckchen, nur ein Haufen von Müll in der Mitte, sonst nichts.

Sie zitterte wie Espenlaub und spürte einen kalten Schweiß den ganzen Rücken hinunter. Sie hatte ihre ganze Hoffnung in die Adresse im Säckchen gesetzt, um uns von diesem schrecklichen Ort wegzubringen, und nun war es gar nicht da.

Aber sie konnte nicht alle Hoffnung aufgeben, denn hatte Vater ihr nicht zahllose Male gesagt, dass G-tt gütig ist und dass alles, was Er tut, zum Besten ist? Was wir machen müssen, ist, zu Ihm zu beten. Ja, sie musste beten. Sie erinnerte sich plötzlich an die Geschichte vom Zaddik (dem Gerechten), der zu Haschem betete, und ein goldenes Bein kam von oben herunter, um ihm zu helfen.

"Aber ich möchte kein goldenes Bein", dachte sie, "alles, was ich möchte, ist das Stück Papier mit der Adresse unseres Cousins."

Es gab natürlich keine Gebetbücher, aber sie erinnerte sich auswendig an einige Verse der Tehillim (Psalme), da die Tehillim zuhause täglich rezitiert wurden. Nun stellte sich jedoch ein weiteres Problem: Ihre Hände waren nicht rituell "sauber".3 Das Wasser kam aus einem Brunnen in der Mitte des Hofes, aber das Wasser heraufzuziehen, bedeutete eine Menge Arbeit, und die mochte das Personal nicht so sehr. Also war Wasser knapp.

Es gab Wasser für die Küche als Trinkwasser und zum Kochen, aber Wasser, um sich zum Beispiel die Hände zu waschen, nachdem man ausgetreten war, stellte einen unerreichbaren Luxus dar. Einmal alle vierzehn Tage gab es Badetag, aber sonst gab es keine Möglichkeit, sich zu waschen.

So entschloss sich Riva, nur solche Verse zu sprechen, die nicht G-ttes Namen nannten. Sie schloss die Augen und betete mit großer Konzentration, in der Überzeugung, dass die Rettung nahe war. Sie beendete das Gebet und öffnete ihre Augen. Sie blickte sich um in der Erwartung, ihre kostbare Adresse zu sehen, aber der Raum sah noch genauso aus wie vorher. Nichts. Sie wartete, schaute sich wieder um, suchte jeden Winkel ab, aber wieder nichts.

Zögernd und verwirrt fing sie an, sich auf den Rückweg zu machen, und ging dabei mit dem Rücken zur Tür langsam hinaus, immer noch gegen alle Wahrscheinlichkeit hoffend, die Adresse zu finden. Sie erreichte die Tür, trat nach draußen und hielt dann inne. Ihr Auge erhaschte etwas auf dem Müllhaufen. Sie bemerkte ein verknokeltes Stück Band, dass ihr sehr vertraut aussah. Schnell ging sie zum Haufen und zog das Band hervor. Sie hielt den Atem an: sie wusste, was das war. Das war das Band um ihre alte Mütze, die man ihr in Leningrad gegeben und die sie in ihrem Säckchen aufbewahrt hatte.

Ihr Herz schlug heftig vor Aufregung. Sie begriff nun, was passiert war. Das Personal hatte sich aus dem Gepäck, das die Kinder mitgebracht hatten, all das angeeignet, was sie für sich selbst haben wollten. Die Leute mussten das Säckchen und die Mütze genommen, aber alles andere herausgeschüttelt haben. Das war der Grund, warum das Band der Mütze da lag; es musste von der Mütze abgerissen sein. Das Stück Papier mit einer Adresse sah aber für die Leute sicher nicht interessant aus, also hatten sie es vermutlich mit dem anderen Rest auf den Abfallhaufen hier geschüttet. Das war eine Überlegung, die es wert war, geprüft zu werden.

Sie setzte sich geduldig am Boden nieder und fing an, langsam, systematisch und Stück für Stück den Müll zu durchsuchen.

Wenn man sich sehr bemüht, hat man Erfolg.4

Nach einer Stunde harter Arbeit wurde ihre Arbeit belohnt. Triumphierend verließ sie den Raum und umklammerte das unbezahlbare Stück Papier mit Ihrer Hand.

Boruch Haschem! G-tt sei gedankt!