Frage?

Ein grundlegendes Axiom des jüdischen Glaubens ist, dass G-tt über allen Beschreibungen und Definitionen transzendent ist. Diese Voraussetzung ist nahe verwandt mit einer anderen grundlegenden Idee im Judentum – nämlich dass alles von G-tt ex nihilo, „aus dem Nichts“, erschaffen wurde. Nicht nur die physische Welt, sondern alles – Zeit, Raum, die Logik selbst, ja sogar der Begriff des „Daseins“ existierte nicht, bevor G-tt beschloss, all diese zu erschaffen. Offensichtlich kann daher der Schöpfer und Bestimmer von Existenz nicht durch einen Begriff, der Seiner Schöpfung entstammt definiert werden.

In anderen Worten: Alles, was wir über G-tt sagen, ist letztlich eine genauso begrenzte Aussage wie die Darstellung einer mit einem Tuch bekleideten weissbärtigen Gestalt, aus einer Wolke herabzeigend. Denn was sind Worte Anderes als Darstellungen von Dingen und Begriffen, die Er erschuf? Alles Vokabular, das wir verwenden – sogar Begriffe wie unendliche und ultimative Abstraktion – haben nur im Kontext unserer Logik Bedeutung, und sind daher letztlich bedeutungslos sobald sie auf G-tt, den Schöpfer der Logik und ihrer Begriffe, angewandt werden.

Jedoch all die Gelehrten und Mystiker die erklären, wie unmöglich es ist, über G-tt zu sprechen, sprechen über Ihn die ganze Zeit! In Zehntausenden von kabbalistischen und chassidischen Abhandlungen erklären sie, lang und breit und in grosser Tiefe, die Aussagen der Tora und feinen Auslegungen über die „Natur“ G-ttes. Können wir also sinnvoll über Ihn sprechen oder nicht?

Antwort!

Diese Frage spiegelt (und letztlich beantwortet) eine andere Frage, die von vielen großen jüdischen Denkern gestellt wurde:

Eines der Grundprinzipien des jüdischen Glaubens ist, dass G-tt keinen Körper hat, ja auch nichts Ähnliches zu einem Körper. Wie können wir dann einem Kind Verse der Tora beibringen, die von G-ttes grosser oder starker Hand1 sprechen? Wenn ein reifer Erwachsener diese Worte lernt, versteht er, dass solche Aussagen und Phrasen allegorisch zu verstehen sind. Aber für einen Erstklassler ist eine Hand eine Hand. Egal wie sehr der Lehrer versuchen mag, den Begriff zu abstrahieren, das Kind wird sich eine grosse und starke Hand vorstellen, so wie die seines Vaters, wiewohl, das es sich um G-tt handelt, eine noch grössere und stärkere als die seines Vaters. Also würde daraus folgen, dass einem Fünfjährigen die Tora zu lehren, ein Akt der Häresie wäre!

Doch warum sollten wir nur die Vorstellung des Kindes über den Allmächtigen in Frage stellen? Letztlich – wie wir in unserer Frage festgestellt haben – ist unsere reife Wahrnehmung von G-tt nicht weniger häretisch als die des Kindes. Denn egal wie sehr wir uns anstrengen unsere Vision von G-tt zu abstrahieren, wir können nicht anders als Ihn als Wesen und Existenz vorstellen, wenngleich als unendliche und unkörperliche Wesenheit und Existenz. Über Ihn zu denken und zu sprechen heisst, Ihn zu definieren, Ihm eine Realität zuzuschreiben, die in Essenz nicht näher an Seine Wahrheit heranreicht als die Vorstellung des Kindes von einer grossen und starken Hand.

(Dazu passt eine Geschichte die von einem der grossen chassidischen Lehrer des 19. Jahrhunderts erzählt wird: Ein bekannter Freidenker kam eines Tages den Rebben zu besuchen. Sehr zum Missfallen seiner Chassidim verbrachte der Rebbe viele Stunden im Gespräch mit seinem Besuch. Nachdem der Herr gegangen war, konnte sich einer der Chassidim nicht zurückhalten und fragte:

„Rebbe, wie konnten Sie nur so eine Person empfangen? Dieser Mann ist ein Häretiker!“

„Ein Häretiker, sagst du?“, gab der Rebbe zur Antwort, „Warum meinst du das?“

„Wieso!“, rief der Chassid, „Seine Ansichten sind allgemein bekannt. Er hat sogar ein Buch geschrieben, in dem er behauptet zu beweisen, dass G-tt nicht existiert!“

„Und du?“, fragte der Rebbe nach, „Was glaubst du? Dass G-tt existiert?“

„Gewiss!“ gab der Chassid zur Antwort, „G-tt existiert.“

„In diesem Fall“, sagte der Rebbe, „ist deine Vorstellung von G-tt, in gewisser Weise, gerade so häretisch wie seine.“)

Nichtsdestotrotz befiehlt uns die Tora: „Und du sollst wissen heutigen Tags und dir zu Herzen nehmen, dass G-tt der Herr ist, in den Himmeln oben und auf der Erde drunten, es ist kein anderer.2 Und so beginnt Maimonides seine Kodifikation des gesamten jüdischen Gesetzes mit dem ersten und grundlegendsten Imperativ eines Lebens im Einklang mit G-ttes Willen: „Die Grundlage aller Grundlagen und die Säule aller Weisheit ist, zu wissen, dass es eine Erste Existenz gibt, die alle weiteren Existenzen ins Dasein bringt; dass alle Existenzen des Himmels und der Erde und zwischen ihnen, ihr Dasein nur von der Wahrheit Seiner Existenz erhalten.

G-tt hat uns ausdrücklich gesagt, dass Er will, dass wir Ihn kennen – Ihn wahrnehmen mit unserem Verstand und unseren begrenzten Werkzeugen der Logik: Ihn wahrnehmen als die erste und ultimative Existenz (denn die einzige logische Alternative zu Existenz ist Nicht-Existenz, und G-tt ist sicherlich nicht nicht-existierend), und gleichzeitig verstehen, dass dies Ihn nur in Relation zu unserer Existenz beschreibt, und nicht Ihn so wie er ist.3

Lass uns einen Moment zu jenem Erstklassler zurückkehren, der über die starke Hand G-ttes lernt. Warum dachten wir, dass das Bild, welches jene Worte in seinem jungen Verstand kreieren, häretisch sei? Weil eine Hand, egal wie gross und stark, ist eine endliche und begrenzte Sache, während G-tt, wie wir wissen, unendlich und unbegrenzbar ist. Aber was ist Unendlichkeit? Gibt es irgendeine objektive Bedeutung zu diesem Wort?

Jahrelang dachte ich, dass etwas, das unendlich ist, ausserhalb von Zeit und Raum existieren muss, denn alles, was innerhalb von Zeit und Raum liegt, wird bestimmt und begrenzt durch endliche Parameter. Dann lernte ich eines Tages das Axiom, von Rabbi Meir ibn Gabbai, einem Kabbalisten des 15 Jahrhunderts, dargelegt: So wie Er Macht hat im Bereich des Unendlichen, so hat Er Macht im Bereich des Endlichen. Denn würdest du Ihm unendliche Macht zuschreiben, jedoch endliche Macht absprechen, so würdest du seine Perfektion reduzieren.4 Ich verstand damals, dass das Wort „unendlich“ ein Oxymoron ist: Wenn etwas nicht endlich ist, dann ist es auch nicht genau unendlich, sondern es bezieht sich auf ein gewisses Gebiet der Realität – jenes Gebiet das ausserhalb des Bereichs des Endlichen liegt. Um wahrhaft unendlich zu sein, muss etwas sowohl das Endliche als auch das Unendliche transzendieren und beide durchdringen, sodass es weder ein- noch ausgeschlossen ist in bzw. aus der jeweiligen Domäne.

Beschreibt meine neugewonnene Einsicht die wahre Bedeutung von Unendlichkeit? Natürlich nicht! Sie ist meine Unendlichkeit, mein konzeptueller Brückenschlag zwischen dem was ich nun als endlich verstehe – und was einschliesst, was ich einstmals für unendlich hielt. In zehn Jahren werde ich vielleicht die Begrenztheit meiner gegenwärtigen Ansicht von Unendlichkeit einsehen und eine neue Unendlichkeit wird in meinem Verstand abstrahiert werden. Und ich weiss, dass sogar bezogen darauf, wie ich jetzt Unendlichkeit in gewisser Weise verstehe, es Denkende gibt, die meine Unendlichkeit für endlich halten, und andere, welche das, was ich für endlich halte als unendlich verstehen.

Man kann also von jedem Verstand sagen, dass er auf drei Ebenen der Abstraktion tätig ist. Er kategorisiert endliche Dinge und formt über sie Begriffe indem er ihre bestimmenden Parameter erfasst. Er abstrahiert eine „Unendlichkeit“, die jenseits von allem liegt, was er als endlich versteht. Und er erkennt dass es eine ultimative Unendlichkeit gibt, die er in keiner Weise erfassen kann, nicht einmal durch Einordnen in den Bereich jenseits der Grenzen seines Verstehens.

Das Kind, welches sich die starke Hand G-ttes vorstellt, erreicht ein genuin abstraktes Verständnis von G-ttlichkeit – das Verständnis, dass G-ttes Realität sogar seine unendlichste Vorstellung von Existenz transzendiert. Für ein Kind ist seine eigene Hand, oder die Hand seiner Freunde, oder auch die Hand seines älteren Bruders, eine begrenzte Hand – eine Hand, die viele beeindruckende Sachen machen kann, aber auch begrenzt ist insofern als da viele Sachen sind, die sie nicht kann. Aber das Kind kennt auch unendliche Hände: Die Hand seines Vaters, zum Beispiel, die kann einfach alles. Es macht nichts, dass diese eine Hand von gewisser physischer Grösse und Form ist – der Gedanke, dass Grösse und Form eine Endlichkeit implizieren, ist noch nicht Teil seiner logischen Wahrnehmung der Realität. Im Rahmen seines fünf-Jahre-alten Verstehens von Unendlichkeit – einer Unendlichkeit die nicht mehr oder weniger ungenau ist, als die, welche von der Reife und dem Wissen irgendwelcher anderer Denkender bestimmt wird – ist die Hand seines Vaters unendlich. Wenn also der Lehrer erklärt, dass G-ttes Hand sogar grösser und stärker ist, als die seines Vaters, dann sieht das Kind nicht nur G-tt als unendlich, sondern versteht auch, dass G-tt etwas ist, das noch jenseits des Jenseits seiner eigenen endlichen Existenz liegt.

Es macht nichts, dass das Jenseits-der-Unendlichkeit eines Fünfjährigen für dich und mich ein häretischer Anthropomorphismus wäre. Würde einer Person Vorstellung über G-tt an G-ttes Wahrnehmung Seiner eigenen Realität gemessen werden, dann wären alle unsere Gedanken über G-tt, und alles, was jemals irgendjemand über G-tt dachte, nicht weniger häretisch. Die blosse Tatsache, dass G-tt uns befiehlt, ihn zu kennen, heisst, dass er will, dass wir in unseren Begriffen über Ihn nachdenken. Was Er von unserem Verstand will, ist ein lebenslanges Suchen nach einer Vorstellung Seiner Wahrheit, ein Suchen im Rahmen dessen man nach und nach die Grenze der eigenen individuellen Vorstellung von Unendlichkeit zugunsten immer abstrakterer Auffassungen der Unendlichkeit Seines Wesens erweitert.

Was ist dann Häresie? Häresie ist die Einordnung G-ttes innerhalb der Skala unserer Realität, die Zuordnung von Merkmalen, die Teil unserer Vorstellung von uns selbst und unserer Welt sind. Die Herausforderung beim Unternehmen, G-tt zu kennen, liegt darin, nicht hinter jenen Grad von Abstraktion, zu dem wir fähig sind, zurückzufallen – basierend auf dem Potential unseres Verstandes und dem Wissen über Ihn selbst, wie Er es in der Tora für uns zugänglich gemacht hat.5