Frage?

Ich studiere das Judentum nun schon seit einiger Zeit und bin schon mitten im Konvertierungsprozess. Ich liebe diese Religion und kann mir das Leben ohne sie nicht vorstellen.

Daher kann ich nicht verstehen, warum ein Mensch, der das Judentum so liebt nicht jüdisch geboren wurde. Warum war meine Seele nicht gut genug, um in einer jüdischen Familie auf die Welt zu kommen? Ich bin traurig, kein Jude zu sein.

Antwort!

Vielen Dank für ihre E-Mail. Ihre Begeisterung fürs Judentum zu lesen, war sehr erfrischend.

Es gibt in der Tora ein Beispiel, das Ihrem Dilemma gleicht. Wenn auch die Umstände nicht genau dieselben sind, so scheinen sie doch auf Ihre Situation anwendbar zu sein.

Der Vers stammt aus Levitikus 24:10:

„Und es geschah, dass der Sohn der israelitischen Frau, und er war der Sohn des ägyptischen Mannes, unter die Kinder Israels ging und sie stritten sich im Lager – dieser Sohn der israelitischen Frau und ein israelitischer Mann. Und der Sohn der israelitischen Frau sprach den (G-ttlichen) Namen aus und fluchte.“

Worum geht es?

Es geht um einen Mann mit einer jüdischen Mutter und einem nicht-jüdischen Vater, der sehr zornig wurde und im Lager lästerte. Unsere Weisen erklären den Grund seines Zorns: Scheinbar wurde dem Mann mitgeteilt, dass er von keinem der 12 Stämme abstammte, und daher unbefugt, sein Zelt im Lager des Stammes Dan aufzustellen.1 Das Stammesgeschlecht wird durch die väterliche Abstammungslinie bestimmt, und sein nicht-jüdischer Vater gehörte selbstverständlich keinem der Stämme an.

Der Mann wollte sein vermeintliches Recht, sein Zelt an ihm genehmer Stelle aufschlagen zu können, durchsetzen. Als ihm das verboten wurde, beschuldigte er die ganze Welt für diese scheinbare Ungerechtigkeit, z.B. G-tt, seine Mutter, seinen Vater, den Stamm Dan.

Doch gab es da ein sehr wichtiges, diesem Mann entgangenes Detail:

Jede Seele wird mit einer besonderen Mission in diese Welt geschickt. Unsere Aufgabe ist zu fragen: "Wozu werde ich gebraucht?" und nicht: "Warum kann ich das nicht haben?" Denn G-tt hat jeden von uns genau in diejenige Situation gesetzt, die es der Seele ermöglicht, genau jene Arbeit zu vollbringen, die sie zu ihrer Vollkommenheit ergänzt.

Die Tora basiert auf verschiedenen Rechten und Verantwortungen.

Daher teilt sie nicht jedem dieselben G-ttlichen Aufgaben zu. Es gibt Gebote, die nur Männer ausführen können, und es gibt Gebote, die nur von Frauen in die Tat umgesetzt werden. Es gibt Mizwot, die nur die Kohanim (Priester) betreffen, sowie es Aufgaben gibt, die den Leviten zu eigen sind, und es gibt spezielle Vorschriften, was den Konvertierten anbelangt. Selbst ein Israelit mit wunderschöner Stimme kann gemäß Tora nicht im Tempel singen, weil das die Aufgabe der Leviten ist.

Wir haben eine kollektive Mission, und G-tt entscheidet, wer bei der Erfüllung unserer einzigartigen Bestimmung welche Rolle übernimmt. Unsere Aufgabe ist es, uns jener Rolle, die uns zugeteilt wurde, zu widmen und uns dabei durch die Tora führen zu lassen.

Zurück zur Episode aus Levitikus:

Der Mann hätte in seiner Situation sagen können: "Aus irgendeinem Grund ist mein Vater nicht jüdisch ... daher habe ich eine ganz besondere Rolle zu spielen, die einzig und allein ein Mann in meiner Position übernehmen kann ... Es muss etwas geben, dass nur ich allein auszuführen vermag."

Doch das tat er nicht, sondern beklagte sich über die Unannehmlichkeiten für seine scheinbar unterprivilegierte Situation.

Statt anzuerkennen, dass ihm eine andere Aufgabe zuteil wird, als sich im Lager des Stammes Dan einzuquartieren, verwünschte er die Quelle dieser Verordnung: Tora und G-tt.

Statt in der Tora den wahren Zweck seines Daseins herauszufinden, entschied er selbst, welche Rolle ihn persönlich anspricht, und beschuldigte die Tora, die ihm etwas anderes zuteilte.

Zurück zu Ihrer Frage:

Sie haben eine einmalige Aufgabe erhalten, die niemand außer Ihnen selbst erfüllen kann. Sie wurden genau an jenem Ort und in jener Familie mit den besten Ausgangsbedingungen geboren, um Ihren Anteil an der Vervollkommnung dieser Welt beizutragen. Ihre Talente, ihre Vorlieben, Ihr Wohnort, Ihre Arbeit, die Menschen, denen Sie begegnen, aber auch Ihre Schwächen ... all das sind Hinweise auf Ihre Mission, die Ihnen auferlegt wurde.

Es gäbe auch eine mystische Antwort auf Ihre Frage: Das jüdische Volk hat eine ungewöhnlich niedrige Vermehrungsrate, obgleich es extrem viele kinderreiche jüdische Familien gibt und Kinderreichtum sehr gefördert wird. Die Antwort ist, dass wir mehr Juden durch Assimilation verloren haben, als z.B. durch Holocaust, Pogrome. Nun zu Ihrer Frage: Eine Seele, die wiedergeboren wird, hat die Aufgabe, in diesem Leben das zu korrigieren, was sie im vorigen Leben falsch gemacht hat. Angenommen, Sie hätten im vorigen Leben den umgekehrten Schritt getan, würden Sie sich dann beklagen? Im Gegenteil! In diesem Leben hätten Sie nun die einmalige Gelegenheit, diesen Fehltritt auf die vollkommenste Art zu korrigieren.

Doch kann ich Ihnen nicht Ihre spezielle Aufgabe nennen: Sind Sie dazu bestimmt, ein gerechter Nicht-Jude zu sein und in diesem Bereich eine besondere Rolle zu spielen oder sind Sie eine jener jüdischen Seelen, die verloren gingen, und jetzt ihren Weg zurück ins Judentum finden und konvertieren sollten?

Feststeht, dass Sie sich genau am richtigen Platz befinden, und daher sollten Sie diese Umstände dankend annehmen und das Beste daraus machen.