Bleib stehen, alter Esel!« Die Frau im Cadillac stieg aufs Gas und vereitelte Morgensterns erneuten Versuch, sich in den Verkehr einzureihen.

»Das ist nicht sehr nett.« murmelte Morgenstern. Er versuchte seit 10 Minuten, vorzufahren, doch niemand wollte einen 80-Jährigen in einem alten Ford vor sich. Eine rote Ampel stoppte schließlich die Autokolonne lang genug, um ihm die Auffahrt auf den S. Vicente Boulevard zu ermöglichen. »Jeder hat es so eilig.« sagte er, während ihn hupende und schimpfende Fahrer überholten – als ob er still stehen würde.

Es war kein guter Vormittag für Morgenstern. Es war erst 10 Uhr, aber er war schon von einem Geschäftsmann angebrüllt worden, dem es nicht gefiel, wie lange Morgenstern dazu brauchte, um sein fettarmes Yoghurt auszusuchen, und er war fast von einer hastig schreitenden Mutter und ihrem Kinder-Buggy überfahren worden.

Nun bog er vorsichtig auf den Bibliotheks-Parkplatz ein. Ein freier Platz lag vor ihm. Den einen Moment, den Morgenstern benötigte, um den Blinker zu betätigen, nützte ein Auto, um von der anderen Seite auf den Parkplatz zu zischen. Der junge Mann stieg aus seinem BMW und eilte zum Eingang, ohne den weißhaarigen Herrn, der ungläubig hinter dem Steuer saß, eines Blickes zu würdigen. Im Gebäude nahm Morgenstern seinen Mut zusammen und sprach den jungen Mann an. »Das war mein Parkplatz.« sagte Morgenstern. »Na und.« sagte der Mann. Bevor Morgenstern antworten konnte, war er weg. Morgenstern schüttelte den Kopf.

Morgenstern war natürlich nicht 80 Jahre alt. Er war nicht einmal ein Mensch. Er war ein Aklusianer. Und nicht irgendein Aklusianer. Ein hochrangiger Aklusianischer Planeten- Beobachter, auf die Erde entsandt, um eine eventuelle Bedrohung für die Aklusianischen Kolonie auf dem Mars zu beurteilen. Bis dato deuteten alle Anzeichen auf »Ja«.

Aklus war ein kleiner Planet auf der anderen Seite der Milchstraße. Im Laufe der Jahrhunderte hatten es die Aklusianer für nötig befunden, unbewohnte Himmelskörper in der gesamten Galaxie zu kolonisieren. Eine der spektakulärsten Galaxien war Le Chateau Du Glaxtinshpiel auf dem Mars. Atemberaubende Gärten. Die Sie aber nie bewundern werden können, weil die Kolonie unsichtbar für das menschliche Auge ist.

Aber nicht einmal eine unsichtbare Kolonie ist unantastbar. Potentielle Angreifer mit der richtigen Ausrüstung könnten Le Chateau in all seiner Pracht offenbaren. Die Aklusianer wussten, dass es nur eine Frage der Zeit war, bevor die Erde einen weiteren Rover auf den Mars schickte und eines der dortigen olympischen Schwimmbecken oder eine preisgekrönte Rosenzüchtung entdecken würden. Wenn die Erdlinge im Allgemeinen ein kriegslustiges Volk waren, würden sie ihre Raketen bald ins All richten.

Angriff ist die beste Verteidigung, und so rief das Aklusianische Hochkommissariat Morgenstern zu Diensten. Sollte sich herausstellen, dass Erdlinge vornehmlich auf Grundlage von Aggression agieren, würde er einfach niesen, ohne seine Nase zu bedecken. Der in seinem System gestaute Virus war so konzentriert, dass die gesamte Erdbevölkerung innerhalb von Stunden tot sein würde. An den Gärten von Le Chateau Du Glaxtinshpiel würden sich auch zukünftige Generationen erfreuen können.

Morgenstern schlurfte die Stiegen in den zweiten Stock der Bibliothek hinauf. Er war der größte Fachmann auf seinem Gebiet. Er wusste alle Anzeichen für einen bösartigen Planeten zu deuten. Doch niemals, niemals zog er seine Schlussfolgerungen voreilig. Eine globale Bevölkerung zu vernichten – das war nicht zum Husten. Er würde bis ans Tagesende mit seiner Entscheidung warten.

Er setzte sich vor einen Computer und gab das Wort »Friede« in die Suchmaschine ein. Das Ergebnis brachte 1587 Seiten für Frieden. Dann tippte er das Wort »Krieg« ein und bestätigte mit der Enter-Taste. 4221 Seiten. Kein gutes Zeichen. Eine laute Stimme hinter ihm ließ ihn aufschrecken. »Was wird das? Dauert das den ganzen Tag?« Er hob seinen Kopf und sah sich einem Jugendlichen mit gepiercten Augenbrauen gegenüber. »Ja, du, mach weiter, ich hab’ nicht ewig Zeit«. Die Beobachtung des Verhaltens von Jugendlichen war eine erprobte Methode Morgensterns, die Zukunft eines Planeten vorauszusagen. Er verspürte einen beißenden Niesreiz.

Morgenstern klopfte mit den Fingern auf das Lenkrad, als er die Meeresküste entlang fuhr. Der Himmel war mit dem Gelb und Orange des Sonnenunterganges gefüllt. »Recht hübsch hier.« seufzte er. In Gedanken sah er eine gigantische unsichtbare Aklusianische Freizeitanlage mit Tennisplatz auf den S. Monica-Bergen.

Die Nacht zog auf. Morgenstern fuhr langsam wieder in die Stadt zurück, aufmerksam die Straßen beobachtend. Bei Nacht zeigt sich das wahre Wesen einer Kreatur. Wenn es sich hier um eine räuberische Spezies handelte, würden die Menschen den Schutz der Finsternis für ihre dunkelsten Taten benutzen.

Plötzlich fing sein Auge eine flackernde Flamme auf. Morgenstern reckte den Kopf. Jemand hatte zwei Kerzen ins Fenster gestellt. Ein paar Häuser weiter leuchtete ein weiteres Kerzenpaar hinter der Fensterscheibe. Er fuhr an den Randstein. Darüber war nichts im geheimen Aufklärungsbericht gestanden.

Behutsam näherte er sich der Tür und läutete. Ein junges Mädchen öffnete die Tür. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich habe Ihre Kerzen im Fenster gesehen. Sind die zum Schmuck?«

»Das ist unsere Menora. Es ist heute erster Chanukka- Abend.«

»Chanukka?«

»›Das Fest der Lichter‹. Wir feiern den Sieg der Makkabäer über die Griechen.«

»Sieg, ah?«

Eine Stimme kam aus dem Inneren der Wohnung.
»Wer ist das, Sara?«

»Ein netter Mann.« sagte Sara, mit einem Lächeln. Es war das erste Lächeln, das Morgenstern den ganzen Tag über erhalten hatte.

Ihre Mutter kam zur Tür. »Guten Tag. Kommen Sie doch herein.«

Zwei Stunden, drei Portionen Hühnerbrust und ein Dutzend Latkes später wusste Morgenstern alles über Juda und die Makkabäer. Aber was ihn wirklich faszinierte war die Menora. »Man stellt sie also ans Fenster, um das Wunder publik zu machen?«

Saras Vater antwortete ihm: »Und auch, damit jeder Passant das Licht sehen kann, das von der Freiheit kommt, und von der Wahrheit.«

»Welche Wahrheit?«

»Dass man mit Licht die Dunkelheit vertreiben kann. Und dass am Ende das Gute siegt.« Morgensterns Stimme wurde leise »Aber es gibt hier so viel Dunkelheit.«

»Eine ganze Menge.« Saras Vater nickte schwach. »Aber die Dunkelheit existiert nur, um in Licht gewandelt zu werden, glaube ich.«

Morgenstern wandte sich an Sara: »Was sagst du, Sara?« »Kerzen sind schön.« sagte sie. Ein Niesen erschallte. Saras Mutter wischte sich die Nase. »Gute Besserung.« sagte Morgenstern. Er erhob sich und dankte seinen Gastgebern.

Kurz vor Mitternacht stand ein barfüßiger Morgenstern am Meeresstrand. Das Kügelchen mit Anti- Materie in seiner Hand würde beim Kontakt mit dem Wasser die Dimension der Zeit neutralisieren und ihn auf Aklus zurückbefördern. Er ließ seinen Blick ein letztes Mal über den sternübersäten Himmel des Planeten Erde streifen und glitt ins kalte Wasser.

Zehn Millisekunden später stand er stramm vor dem Aklusianischen Hochkommissariat. Die furchtlose Führerin Gloria sprach zu ihrem bevorzugten Planeten- Beobachter.

»Wie lautet das Urteil über diese Erdenbewohner? Kriegsherren oder Friedensstifter?«

»Sie sind mehr als Friedensstifter. Sie sind Lichtstifter.
« Morgenstern schälte sich aus seinem menschlichen Hautanzug, salutierte und verließ den Saal. Er hatte seinen Kindern versprochen, sie heute noch in den unsichtbaren Zoo zu nehmen.