Mein Vater, Rabbiner Avraham Zwi Grünwald, wurde in Lodz geboren. Im Alter von acht Jahren verstarb sein Vater. Um die Erziehung ihres jungen Waisenkindes besorgt, schickte ihn seine Mutter zu ihrem Cousin, dem bekannten Gaon Reb Menachem Zemba, möge G-tt sein Blut ahnden, der ihn persönlich erzog und unterrichtete.

Mein Vater war knapp 17 Jahe alt, als in Warschau „die grosse Hochzeit“ stattfand der Tochter des früheren Rebben mit dem heutigen Rebben, woran die creme de la creme des polnischen Judentums Anteil nahm. Er kam zur Hochzeit zusammen mit Reb Menschem Zemba. Am Tag danach sagte ihm Reb Zemba, dass er er den Bräutigam besuchen möchte. Und so kam mein Vater dazu, mit Reb Semba zum Rebben ins Zimmer zu gehen.

Mein Vater erzählt, dass das einzige, woran er sich erinnert, die folgenden Wörter sind, die der Rebbe an ihn richtete, bevor sie sich verabschiedeten:

„In wenigen Tagen ist doch das Chanukka-Fest. Weisst du, warum man am fünften Abend von Chanukka in allen chassidischen Bethäusern einen besonderen Festtag feiert? Weil der fünfte Tag nie auf den heiligen Schabbos fallen kann, ist er ein Zeichen für die tiefste Dunkelheit. Mit dem Chanukkalicht aber kann man auch die größte Dunkelheit erhellen, und deshalb kommt der Chiddusch und die Kraft von Chanukka augerechnet am 5. Abend zum Ausdruck. Und genau das ist die Aufgabe jedes Juden - woimmer er sich aufhält, hat er selbst den dunkelsten Ort zu beleuchten, ob in Warschau oder in London ...“

Wie erwähnt, hat mein Vater keine klare Erinnerung, worüber damals gesprochen wurde, doch eines - so sagte er - wird er nicht vergessen: „Alle Talmudtraktate ‚flogen‘ nur so im Zimmer umher“, und Reb Semba war durch diese Treffen in solche Aufregung versetzt, dass er tagelang von der Größe des Schwiegersohnes des Lubawitscher Rebben sprach.

Seit damals sind etwa 20 Jahre vergangen. Mein Vater hat das schrecklche Umkommen des zweiten Weltkrieges mitgemacht , wo seine Frau mit ihren fünf Kindern vor seinen Augen ermordet wurden. Im Jahr 1948 kam er endlich in Amerika an, wo er seine zweite Frau (meine Mutter) traf. Auch sie hatte den Krieg durchgemacht und war danach von ihrem Großonkel, dem Philantrophen Reb Koppel Schwarz aus Toronto, aufgenommen worden.

Vor ihrer Eheschließung nahm Reb Koppel die beiden zum früheren Lubawitscher Rebben auf „Jechidut“. Am Ende erwähnte meine Vater, dass er die Ehre hatte, damals an der „großen Hochzeit“ teilzunehmen. Als er dies hörte, riet der frühere Rebbe den beiden, seinen Schwiegersohn - der sich hier im Gebäude befindet - zu begrüssen.

Mein Vater und Reb Koppel suchten also unter Berufung auf den Früheren Rebben den Ramasch (so nannte man damals Rabbi Mendel Schneersohn) in seinem Zimmer auf. Mein Vater war sehr überrascht, als ihn der Rebbe sogleich erkannte. Der Rebbe erkundigte sich wegen der Ermordung von Reb Menachem Semba und sagte dann: „Da der Rebbe Ihnen geheissen hat, zu mir zu kommen - möchte ich einen Torah-Gedanken mit iIhnen teilen: Wir stehen doch kurz vor dem Chanukkafest. Wie bekannt ist, feiern Chassidim, die dem Weg des heiligen Baal Schem Tov folgen, den fünften Chanukkaabend als besonderen Festtag. Warum? Weil der fünfte Chanukkaabend niemals auf Schabbos fallen kann. Ist das doch die größte Dunkelheit. Und das ist auch die Aufgabe jedes Juden, woimmer er auch ist - ob in New York oder in London - er muss selbst den dunkelsten Ort erhellen.“

Mein Vater war sprachlos. Er selbst konnte sich nur mit Mühe an die Worte des Ramasch vor 20 Jahren erinnern, und hier hört er sie nochmals vom Ramasch selbst - Wort für Wort.

Fünf Jahr nach seiner Heirat liess sich mein Vater in Toronto nieder. Dort wurde er Rabbiner in einer Satmarer Gemeinde. Und obwohl er Satmar im Ideologischen nahestand, sprach er vom Rebben stets mit größter Ehrfurcht.

Im Winter 1969/70 heiratete ich. Mein Vater wollte sehr, dass auch ich - so wie er - vor der Hochzeit des Segen des Lubawitscher Rebben empfing. So fuhren wir gemeinsam nach Brooklyn.

Der Rebbe empfing meinen Vater mit einem breiten Lächeln: „Noch hecher zwanzig Jahre, ist schon tatsächlich die Zeit gekommen, insbesondere, da Sie mein Schwiegervater zu mir geschickt hat.“ Mein Vater blieb stumm - der Rebbe hatte scheinbar genau im Kopf, wann sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Der Rebbe öffnete das Kvittel - das traditionelle schriftliche Ansuchen um einen Segen - und sagte: „So wie Sie mich erfreuten bei meiner Hochzeit, soll Ihnen G-tt, der Allmächtige, Kräfte geben, dass auch Sie sich freuen können bei der Hochzeit Ihres Enkelkindes.“ Die Augen meines Vaters leuchteten auf ob dieses teuren Segens.

Bevor wir das Zimmer verliessen, sagte mein Vater: „Wir leben in einer Satmar Gemeinde, und man hört ständig Kritik und üble Nachrede über Lubawitsch. Man soll nicht alles glauben, was die Leute so reden ... aber es beschäftigt mich doch: Es steht doch ausdrücklich in der Bibel: ‚Deine Hasser, oh G-tt, hasse ich‘ etc.“

Der Rebbe antwortete mit einer Frage: „Was würde jener Eiferer (Kanui) sagen, wenn seine Tochter in schlechte Gesellschaft geräte? Würde er nicht versuchen, sie zurückzuholen, so wie es steht: ‚Und von deinem Fleische sollst du dich nicht verbergen‘ Und dies, obwohl es steht ‚und deine Hasser, oh G-tt, hasse ich.‘ Und ‚befreunde dich nicht mit den Bösen‘.“ Der Rebbe klopfte mit der Hand auf den Tisch: „Bei G-tt ist jeder Jude so wertvoll wie ein einziges Kind, und beim Früheren Rebben galt für jeden Juden ‚Du sollst dich nicht vor deinem Fleische verbergen‘.“

Danach fixierte der Rebbe seinen durchdringenden Blick auf mich und meinen Vater „Man solll mit Positivem schließen ... bekanntlich feiert man bei Chassidim die fünfte Chanukknacht Da die fünfte Nacht von Chanukka niemals auf Schabbos fällt, ist das doch die tiefste Dunkelheit. Und mit der Kraft des Chanukkalichtes kann man auch die Finsternis erhellen, und das ist die Aufgabe jedes Juden - selbst den finstersten Ort zu erhellen, woimmer er auch ist, ob in Toronto oder in London. Jeder Jude ist ‚wirklich ein Teil G-ttes droben‘ und wenn man seine Seele mit der Flamme der Heiligkeit entzündet, wird niseurer auch der weiteste Jude am finstersten Ort.“

Mein Vater war völlig schockiert. Er konnte sich später nicht mehr erinnern, wie er das Zimmer des Rebben verlassen hatte. Den gesamten Weg nach Hause murmelte er ständig: „Wunder über Wunder. Wunder über Wunder.“

Etwa zehn Jahr später, im Jahr 1979, machte sich meine gesamte Familie auf die Reise zur Hochzeit meines jüngeren Bruders in London Während der Flugreise erzählte mir mein Vater, dass ihn wenige Stunden vor der Abreise einer der Nachbarn - ein hoch angesehenes Gemeindemitglied - zu Hause aufgesucht hatte. Der Nachbar hatte ihm anvertraut, dass seine Tochter bereits seit geraumer Zeit den torahtreuen Weg verlassen habe. Doch dem nicht genug - als traurigen Höhepunkt war sie vor kurzem mit einem Nichtjuden nach London gereist. Die Tochter hatte jeden Kontakt abgebrochen, die Eltern wussten nicht einmal ihren derzeitigen Aufenthaltsort. Seit damals herrscht bei ihnen zu Hause eine schreckliche Atmosphäre - 9. Av., deshalb bittet er meinen Vater - er fährt doch jetzt nach London - vielleicht kann er dort irgendetwas in Erfahrung bringen.

Am ersten Abend der „7 Segenssprüche“ (Am Abend nach der Hochzeit/Am Tag nach der Hochzeit) erzählte mein Vater auch dem Brautvater von dieser Geschichte. Der Brautvater erklärte, mit derartigen Unternehmungen nicht vertraut zu sein, doch wüsste er jemanden ... seinen guten Freund, ein Lubawitscher Chossid, Rabbi Avraham Glick heisst er ... Noch am selben Abend rief man bei Rabbi Glick an, und der versprach, die Sache zu überprüfen.

Ich weiss nicht, wo Rabbi Glick suchte, ich weiss nicht, woher er seine Informationen bezog, doch einige Abende später war er plötzlich am Telefon. Schnell, schnell, man möge zu ihm kommen, es gibt gute Neuigkeiten. In Rabbi Glicks Wohnzimmer trafen sie auf ein verzweifeltes Mädchen, still weinend im Licht der Kerzen.

Als Vaters Blick auf die 5 brennenden Chanukkakerzen, durchlief ihn ein Schauder und er fühlte sich der Ohnmacht nahe. Er erinnerte sich der Worte des Lubawitscher Rebben vor 50, vor 30 und vor 10 Jahren:

„Die fünfte Chanukkanacht zeigt auf die Kraft, die tiefste Finsternis zu erhellen, und die Aufgabe jedes Juden ist es, auch den dunkelsten Ort zu erhellen, ob in Warschau oder in London, ob in New York oder London, ob in Toronto oder in London ...“

„Was würde jener Eiferer sagen, wenn - G-tt behüte - seine Tochter in schlechte Gesellschaft geräte ... Bei G-tt ist jeder Jude wie ein einziges Kind, und beim Früheren Rebben ist jeder Jude ‚Du sollst dich nicht vor deinem Fleisch verbergen‘.“

Nach Toronto zuzückgekehrt, unternahm mein Vater die größten Anstrengungen, den Rebben in Privataudienz zu sprechen - was in jenen Jahren so gut wie unmöglich war. Nach viel Protektion und monatelangem Warten wurde er schliesslich ins Zimmer des Rebben vorgelassen.

Mein Vater erzählt, dass er - vor dem Rebben stehend - zuerst kein Wort über die Lippen brachte. Sobald er die Geschichte erzählen wollte, brach er in Tränen aus. Der Rebbe hörte geduldig zu und sagte schliesslich: „Ja, ja ... der Rebbe hatte einen weiten Blick ..."

Das ist noch nicht das Ende der Geschichte. Am 14. Kislew 5749 (Dez. 1989), als die Hochzeitsfeierlichkeiten für meine älteste Tochter zu Ende gingen, erstatte mein Vater seine Seele dem Schöpfer zurück - auf den Tag genau 60 Jahre nach der Heirat des Lubawitscher Rebben, und, so wie ihm versprochen worden war - nachdem er die Hochzeit seines Enkelkindes erlebt hatte ...