Die Anwesenden beim Sedertisch – in aller Welt und sämtlichen Epochen – werden vom Talmud mit einer Personifikation beschrieben, allgemein bekannt als die Vier Söhne. In Fortführung dieses Konzepts überraschte der Lubawitscher Rebbe (1902-1994) mit der Aussage, es gäbe auch einen fünften Sohn. Anfangs galt seine Idee als radikal.

Wen gibt es noch neben dem Klugen, dem Bösen, dem Einfachen und demjenigen, der nicht zu fragen weiß? Einen weiteren Sohn, sagt der Rebbe. Er weigert sich aber, zum Seder zu kommen. Er hat nicht vergessen, er möchte nicht kommen.

Traditionellerweise bezog sich das auf ein verlorenes Mitglied der Familie, das Kind, über das man nicht spricht: Er/sie hatte »aufgehört, jüdisch zu sein«. Der Rebbe sagte, er/sie ist ein Jude, wir müssen sie erreichen und einladen, zum Sedertisch zu kommen.

Welches Element im fünften Sohn ist es, das sich weigert am Sederabend teilzunehmen? Sein jüdischer Teil. Seine jüdische Seele hat Einwände, weil das dargebotene Judentum nicht ihren Erwartungen entspricht. Sie will ein besseres Judentum, nicht weniger Judentum. Die jüdische Seele bittet uns, zuzuhören.

Durch ein Hören darauf, was der fünfte Sohn zu sagen hat, kann das Judentum all das sein, was es sein sollte. Er ist wie ein Sicherheitsventil, ein Regler, der ausschlägt, wenn etwas schiefläuft. Er ist eine Warnglocke, die mehr oder weniger schrill läutet, wenn wir vom Weg abkommen, kleinlich und engstirnig werden, oder einfach nur gleichgültig.

Der fünfte Sohn kommt beispielsweise nicht zum Seder, weil es nur für Juden ist. Er hat das nicht gerne, es gefällt ihm nicht. Warum müssen wir uns abkapseln? Wozu eine kleine Gruppe sein, wenn man Teil einer großen Welt werden kann? Er hat in mancher Hinsicht Recht. Wenn G-tt wollte, dass wir in der weltfremden Abgeschiedenheit einer Enklave leben, warum würde Er uns auf der ganzen Welt verstreuen? Warum sind wir überall, wenn wir nirgends hingehören? Judentum in seiner universalen Ausformung und Bedeutung muss alle Menschen miteinbeziehen. Gewiss, es gibt Teile, die spezifisch für Juden relevant sind – »Sprich zu den Kindern Israels«, sie sollen dieses und jenes tun. Aber im Makro-Rahmen ist die Tora nicht nur für 0,25% der Weltbevölkerung bestimmt, sie ist der Bauplan der Schöpfung, eine universelle Ethik für diesen Planeten und seine Bewohner.

Der fünfte Sohn kommt nicht, weil wir beim Seder den Prophetenvers lesen: »Gieße Deinen Grimm über die Völker, die Dich nicht anerkennen«. »Wozu setze ich mich«, denkt er, »mit einer Gruppe frustrierter Typen an den Tisch, die überzeugt sind, die ganze Welt sei gegen sie, und über Rotwein und Mazzesknödel den Zorn des Allmächtigen auf ihre Widersacher herabrufen?« Damit möchte der fünfte Sohn nichts zu tun haben.

Er hat Recht, weil ihm niemand diese Stelle erklärt hat. Wenn man die oberflächliche Bedeutung betrachtet, sieht es aus, als würden wir gemeinsam mit Familie und Freunden Frust abreagieren und am Esstisch lautstark nach Revanche rufen. In Wirklichkeit aber bezieht sich diese Stelle auf die Zukunft, und gilt Menschen, die selbst bei Anbruch des messianischen Zeitalters ihren Hass gegen das Volk Israel beibehalten und die friedliche Harmonie der neuen Weltordnung mit Gewalt stören wollen. Warum wir das am Sederabend erwähnen? Weil nach dem Talmud die zukünftige Erlösung zu Pesach vor sich gehen wird – »Im [hebr. Monat] Nissan wurden sie [aus Ägypten] erlöst, im Nissan werden sie auch in Zukunft erlöst werden.«

Eine weitere Vorstellung, die der fünfte Sohn nicht akzeptieren kann: Wenn er zum Seder kommt, ist er jüdisch; wenn er nicht kommt, ist er nicht wirklich jüdisch. Mizwot machen keine Juden, sagt er darauf. Juden machen Mizwot.

Es gibt noch mehr Dinge, die der fünfte Sohn ablehnt. Er mag keine Spaltung. Er sehnt sich nach Einheit, so wie G-tt. Er mag keine Negativität,er sehnt sich nach Freude. Wenn man »religiös« ist, so die landläufige Meinung, muss man betonte Ernsthaftigkeit demonstrieren. Ständig wachsam sein, scheint die Parole, hinter jeder Ecke lauert schließlich eine potentielle Sünde. So kann man nicht leben. Das ist nicht, was G-tt im Sinn hatte, und der fünfte Sohn spürt das. Das zentrale Thema des Judentums ist, dem Schöpfer mit Freude zu dienen. Aber schauen wir uns einmal um – wo ist die Freude geblieben? »Was ist los?«, fragt der fünfte Sohn, »irgendwas stimmt hier nicht, liebe Leute, ich verzieh’ mich.«

Der fünfte Sohn sucht nach einem Schöpfer mit einem ewigen Plan und einem jüdischen Volk mit einer historischen Aufgabe. Er möchte G-ttlichkeit mit Kanten und Konturen. Er möchte mit Ihm kommunizieren – ein G-tt, der ihn und seinen Dienst braucht. »Ruft mich, wenn ihr etwas für meine jüdische Seele habt, nein, keine ›Entartete Kunst‹-Matineen und Diskussionen über Antisemitismus«, sagt er. »Ruft mich, wenn ihr ein Judentum für mich habt, das nicht gönnerhaft-herablassend ist, das nicht Schwarz-Weiß malt, das einfach ist.«

Diesen Pessach können wir versuchen, einen fünften Sohn oder eine fünfte Tochter an unseren Sedertischen willkommen zu heißen. Dann würde es wirklich eine Nacht werden anders als alle Nächte.