Obwohl die westlichen Staaten das Konzept der persönlichen Freiheit schon lange fest in ihren Verfassungen verankert haben, ist es in vielen Ländern der übrigen Welt noch immer keine Selbstverständlichkeit. Die persönliche Freiheit, wird bei uns als Geburtsrecht verstanden, vielerorts aber leider immer noch missachtet und unterdrückt.

Die Menschheit hat diesbezüglich jedoch grosse Fortschritte gemacht, was die Hoffnung aufkommen lässt, dass sie einst überall als Selbstverständlichkeit betrachtet werden wird. Die individuelle Freiheit bildet die Grundlage jeder Demokratie, welche sich wiederum als Bollwerk gegen Tyrannei und als geeignetstes politisches System erwiesen hat. Daraus lässt sich auch die Idee unserer freien Marktwirtschaft ableiten.

Niemand wird aber ernsthaft behaupten, dass die Demokratie die perfekte Lösung gegen menschliche Schwächen ist. Ganz im Gegenteil: Schon die ersten Philosophen, die sich mit der Idee der Demokratie auseinandergesetzt haben, haben auf ihre Mängel hingewiesen. Auch in einer demokratischen Gesellschaft gibt es genügend Beispiele für Korruption und Machtgier.

Auch die individuelle Freiheit eines jeden Einzelnen kann und darf nicht mit Glück und Zufriedenheit gleichgestellt werden. Es gibt genügend Beispiele dafür, dass manche Menschen gerade als Folge dieser Freiheit leiden, denen es wahrscheinlich in einem anderen politischen System besser ergehen würde. Freiheit ist eben nicht nur da, um Zufriedenheit zu gewähren, sondern darf, genau wie Essen und Schlafen als menschliches Grundbedürfnis betrachtet werden. Ist sie doch nicht nur Mittel zum Zweck, sondern der Zweck selbst.

Lassen sich Freiheit und Theokratie vereinbaren?

Auch die Tora beansprucht für sich, als freiheitsspendende Religion zu wirken. So bildet der Leitgedanke „Jeziat Mitzrajim“ (die Erlösung aus Ägypten) einen Grundpfeiler des jüdischen Glaubens und wird im Chumasch fortwährend erwähnt! Nur so lässt sich erklären, dass die Erwähnung dieses Ereignisses mit jedem der so zahlreichen jüdischen Feiertage in Verbindung gebracht wird. Ja, es wird sogar im Kiddusch am Schabbat und allen Feiertagen erwähnt (Secher Lijeziat Mitzrajim – Erinnerung an den Auszug aus Ägypten). Auch im Keriat Schema und anderen Stellen im täglichen Gebet hat es seinen Einlass gefunden. Unserem Pessachfest liegt dieser Freiheitsgedanke zu Grunde. Es wäre zu einfach, dieses ständige repetieren einfach dadurch abzutun, dass man darin nur die Basis für die Verpflichtung des Volkes gegenüber G-tt sieht. Dies trifft zwar zu, doch scheint die Tora dem Begriff Freiheit wirklich sehr viel mehr Stellenwert zukommen zu lassen. So steht in Pirkei Awot (Kap.6, Mischna 2): „Denn du findest keinen wahrhaft Freien, als den, der mit dem Erlernen der Tora sich befasst.“

Diese Betonung und Verherrlichung des individuellen Freiheitsprinzips scheint jedoch ganz und gar nicht mit der Realität irgend einer und im speziellen mit der jüdischen Religion übereinzustimmen. Die Voraussetzung für die Erfüllung der Gebote ist doch immer mit der Idee verknüpft, dass sich der Mensch G-tt unterwirft, diesem in Ergebung dient und dessen Autorität akzeptiert. Der Mensch hat dabei kein Mitspracherecht und kann deshalb die Natur dieser Gebote und Gesetzte nicht mitbestimmen. Würde die Tora aber von sich behaupten, ein Gesetz fürs Leben zu sein, dass den Menschen glücklich und zufrieden macht, das Leben der Gläubigen verschönert und mit Sinn erfüllt, wäre dies noch verständlich und vielleicht sogar akzeptabel. Doch kann dies Freiheit genannt werden?

Freiheit genauer definiert

Um dieser Problematik auf den Grund zu gehen, müssen wir zuerst Freiheit und deren Erscheinungsformen etwas näher betrachten. Der Begriff ist nämlich keineswegs so einfach und unkompliziert, wie er zunächst erscheint. Das bekannte Sprichwort: „Wer die Wahl hat, hat die Qual“ führt uns diese Problematik schon vor Augen. Versuchen wir doch ein tieferes und differenziertes Bild dieses Konzeptes aufzuzeigen.

Freiheit als Besitz

Wenn von Freiheit überhaupt die Rede sein soll, ist der Gedanke, dass kein Mensch einem Anderen gehören darf und kann, die grundlegende Basis. Dies war nicht immer eine Selbstverständlichkeit, doch scheint die Menschheit im Grossen und Ganzen von dieser Idee schon überzeugt zu sein. Sie formt die Basis für jede weitere Entwicklung in der Geschichte der menschlichen Freiheit, weil sie die Voraussetzung zur Erkenntnis bildet, dass jeder Mensch einen Selbstzweck hat und nicht nur existiert, um das Leben eines Anderen zu verschönern und zu erleichtern.

Freiheit von Gewalttätigem Zwang

Auch falsche Lippenbekenntnisse zur Freiheitsidee wird diese dem Menschen noch lange nicht bringen, wenn er durch Andere unter Druck gesetzt wird und nur ihren Befehlen folgen muss. Er besitzt sich de jure zwar selbst, kann mit diesem Besitz jedoch wenig anfangen, da es ihm de facto verunmöglicht wird, zu tun und lassen was ihm wünschenswert erscheint. Leider wird diese Form der Sklaverei in vielen Ländern noch immer toleriert oder gar akzeptiert und es bleibt nur die Hoffnung, dass sich die Idee der wahren Freiheit mit der Zeit auch dort durchsetzten wird.

Freiheit der Möglichkeiten

Obwohl dem Menschen das grundsätzliche Recht zugesprochen wird, eigene Entscheidungen zu treffen und mit seinem Leben zu tun, was er will, ist der Weg zur Freiheit noch weit, falls ihm keine Möglichkeit geboten wird, seine Wünsche auch zu verwirklichen. So wäre beispielsweise ein Mensch zwar frei, wenn er alleine mit seinem Boot auf einer Insel gestrandet ist, doch könnte er mit dieser Freiheit noch lange kein Brot kaufen, weil es auf dieser Insel nicht erhältlich ist. Hier kommt dann die freie Marktwirtschaft zum Tragen, die nach der Erfahrung der Geschichte als einziges System die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen längerfristig befriedigen kann.

Freiheit der Erkenntnis

Dem Freiheitskonzept ist keineswegs Genüge getan, falls das Individuum zwar alle Möglichkeiten hat, seinen Wünschen nachzugehen, über diese Möglichkeit aber nicht informiert ist. Ein Mensch kann ohne Informationen nichts erreichen. Aus dieser Erkenntnis heraus ist es heute in den meisten Ländern eine Selbstverständlichkeit, dass der Staat ein Schul- und Erziehungssystem für alle seine Bürger anbietet. An diesem Schulsystem dürfen alle gleichberechtigt partizipieren, um jedem soviel Information und Wissen zu vermitteln, dass ihm zwecks Selbstverwirklichung die Gelegenheit geboten wird, seine Möglichkeiten auszuschöpfen. In dieser Idee kommt auch das Prinzip der Pressefreiheit zum Ausdruck, in dem sicher gestellt wird, dass jeder Zugang zu Informationen hat, die ihm wichtig erscheinen. Auch das Internet hat dem Begriff Wissens- und Meinungsfreiheit sicherlich eine ganz neue Note verliehen.

Freiheit vor Verwirrung

Alle genannten Ausdrucksweisen der Freiheit setzen jedoch voraus, dass der Mensch etwas damit anzufangen weiss. Dass er Wünsche und Träume hat, denen er nachgehen möchte, sobald es ihm ermöglicht wird. Wenn er nämlich nur auf äussere Einflüsse reagiert und keine inneren Ziele und Wünsche hat, werden ihm die obengenannten Freiheiten das Leben nur erschweren. Zu jeder Zeit werden ihn die verschiedenen Angebote verlocken, ihm aber keinen Weg zeigen. Er hat die Qual statt der Wahl, falls er nicht selber weiss, was er eigentlich will. Aber auch diese Art von Freiheit kann dem Menschen von Anderen gegeben werden. Die Aufgabe seiner Eltern oder Erzieher besteht nämlich nicht nur darin, ihm Informationen, sondern auch Werte zu vermitteln, nach denen er sich richten kann. Letztendlich muss der Mensch aber schon selber wissen, welchen Weg er im Leben einschlagen will.

Freiheit der Selbstbeherrschung

Eng mit diesem Prinzip verbunden, ist das Konzept der Selbstbeherrschung. Auch wenn der Mensch weiss, welche Ziele er im Leben verfolgen will, und ihm nichts im Wege steht, diese zu erreichen, kann er trotzdem an seinen eigenen Schwächen straucheln. Gerade weil die Welt so viel zu bieten hat und weil ihm alle Möglichkeiten offen stehen, ist es ungleich schwerer, sich auf das zu konzentrieren, was ihm am meisten bedeutet. Zumal die Erreichung eines Lebensziels eine sehr lange Zeit beansprucht, und auf kurze Dauer oft andere Dinge leichter zu haben sind. Nur der Mensch dem es gelingt, hartnäckig seine Ziele zu verfolgen und sich durch nichts ablenken lässt, ist kein Sklave seiner Triebe und kann den Titel eines freien Menschen beanspruchen. Inbegriffen darin ist auch die Freiheit vor äusserem sozialem Zwang und den Erwartungen der Gesellschaft.

Freiheit vom Egoismus – Idealismus

In einem gewissen Sinn kann behauptet werden, dass auch derjenige nie ganz frei ist, dem es gelingt, seine Lebensziele zu erreichen, er ist Sklave seines eigenen Egoismus. Er will etwas, kämpft dafür und erhält es auch. Trotzdem ist er nichts anderes als der Diener seiner selbst, weil er sich von eben diesem Selbst nicht befreien kann. Sicher kann man ihn für seine Zielstrebigkeit bewundern, er verdient jedoch keinen Ehrenkranz für die Hingabe zu seinem eigenen Ich. Es gibt in der Welt eine Philosophie, die die Errungenschaften dieses Menschen als höchstes Ideal ansieht. Diese Philosophie ist nicht neu, sondern wird in Pirkei Awot (Kap. 5, Mischna) als „Midat Sedom“ (Eigenschaft und Weltanschauung von Sodom) bezeichnet. Diese Mischna sagt, dass die Aussage einer Person: “Scheli Scheli Weschelach Schelach (Das Meine gehört mir und das Deine gehört Dir)genau der Auffassung von Sedom entspricht, wofür die Sodomiter mit Untergang und Vernichtung bestraft wurden. Ein wahrlich grosser Mann müsste auch diese Grenze des Egoismus sprengen können, um so die volle Freiheit zu erlangen. Das ist aber nur möglich, wenn er für Ideale kämpft, die seine eigene Ziele und Bedürfnisse in keiner Weise fördern. Solange der Mensch nur seine eigene Ziele verfolgt, verhält er sich wie ein sehr intelligentes, kluges und menschliches Tier. Denn genau wie ein Tier, kann er sich nicht über die Grenzen seiner eigenen Bedürfnisse hinwegsetzen und Weitsicht erkennen lassen. Obwohl es Tiere gibt, die ihr Leben für die Erhaltung ihrer Art opfern, handeln diese nur aus Instinkt. Die menschliche Stärke liegt jedoch darin, dass er aus freien Stücken die Bedürfnisse Anderer über seine eigenen setzten kann.

Freiheit von menschlichen Limiten – Verbundenheit mit dem unendlich grossen G-tt

Jetzt fehlt noch der Schritt, um die vollendetste Form der Freiheit als Mensch zu erreichen. Der Mensch ist und bleibt nun einmal limitiert und begrenzt. Diese Hürde wird er nie ganz überspringen können, sie wird ihn wie sein Schatten überallhin begleiten. Er kann nicht unsterblich werden und an all seinen Taten haftet der Hauch der Begrenztheit des sterblichen Wesens. Hier bekommt die grosse und wunderbare G-ttliche Erlösung von Mitzrajim ihre tiefere Bedeutung. Das Wort Mitzrajim ist nicht nur das hebräische Wort für Ägypten, sondern kann auch als „Metzarim“ (Grenzen, Limiten) gelesen werden. Nur durch die Verbindung mit G-tt, kann auch die menschliche Tat Unsterblichkeit erlangen und damit einen unbegrenzten Wert erhalten. Das Wort „Mitzwa“, normalerweise als „Gebot“ oder gar „Befehl“ übersetzt, kann nämlich auch als „Verbindung“ verstanden werden. Die Mitzwa, das G-ttliche Gebot ist nicht da, um den Menschen zu unterjochen, sondern ihm die unbegrenzte Freiheit zu schenken – die Verbindung mit dem Ewigen. Die jüdische Religion kann aus zwei ganz verschiedenen Perspektiven heraus erlebt werden. Aus der einen Sicht ist sie dem Menschen aufgezwungen, begrenzt ihn und behindert ihn gar in seiner Freiheit. Anders betrachtet ist sie aber das einzige Mittel, echte Freiheit zu erlangen. So können wir nun die obenerwähnte Aussage der Mischna erklären: “Denn du findest keinen wahrhaft Freien, als den, der mit dem Erlernen der Tora sich befasst“. Es heisst hier nicht, „als den, der die Tora erfüllt“, denn nicht jeder, der die Tora erfüllt, fühlt sich dadurch freier, ganz im Gegenteil. Derjenige aber, der sich mit ihr befasst, weil er ihren wahren Sinn erfasst hat, ist der wahre freie Mann. Möge es uns in diesem Sinne auch gelingen, das „Fest der Freiheit“ im wahrsten Sinne des Wortes zu feiern.