In der dieswöchigen Sidra verkündet die Tora (Lev. 19, 18) die berühmte "Goldene Regel": "Liebe deinen Nebenmenschen wie dich selbst" – wodurch sich im tiefsten Sinne die Liebe zu G-tt erst völlig manifestiert. Im Zusammenhang damit ist ein Gleichnis erheblich und aufschlussreich, welches R. Israel Baal Schem Tov, der Begründer des Chassidismus, bei einer besonderen Gelegenheit einmal vortrug.

Speziell in der ersten Hälfte seines Lebens pflegte der Baal Schem Tov öfters kleine jüdische Gemeinden auf dem Lande aufzusuchen. Auf den Marktplätzen der betreffenden Ortschaften versammelte er dann jedes Mal "einfache" und "gewöhnliche" Leute, Männer, Frauen und Kinder, und erzählte ihnen seine Geschichten, die im allgemeinen auf Geschichten unserer Weisen in Talmud und Midrasch zurückgingen. Dabei pflegte er deren Inhalt genau zu erklären oder aber das damit angeschnittene Thema als Grundlage für eine seiner eigenen Erzählungen zu benutzen, damit die Zuhörer sich die Moral und Lehre gut einprägen konnten.

Bei einer solchen Gelegenheit betonte R. Israel einmal, wie kostbar, wie überaus wertvoll jeder einzelne Jude vor G-tt ist; und er sprach von G-ttes großer Liebe zu jedem einzelnen von ihnen, wo der Mensch doch an sich nur ein schwacher Sterblicher ist. Er zitierte dazu ein Beispiel, von dem er wusste, dass seine Zuhörer dieses gut verstehen und zu Herzen nehmen würden; denn es betraf einen gewissen Reb Jaakov, einen Mann, den sie alle kannten, weil er im gleichen Orte wie sie wohnte.

Dieser Reb Jaakov kannte den ganzen Talmud und seine hauptsächlichen Kommentare auswendig; und so war es seine Gewohnheit, diesen allein nach dem Gedächtnis zu studieren, ohne den gedruckten oder geschriebenen Text vor sich zu haben. Für ein solches Studium nach dem Gedächtnis bedarf es, verständlicherweise, einer viel stärkeren Konzentration als für ein Lernen aus einem Buche.

Nun geschah es eines Tages, als Reb Jaakov in dieser Weise "auswendig" studierte und sich gerade sehr auf eine schwierige Stelle aus einem der Kommentare konzentrierte, dass sein kleiner Sohn zu ihm kam und in kindlicher Weise etwas sehr Gescheites sagte. Reb Jaakov unterbrach sein Studium und wunderte und freute sich über den kindlichen Scharfsinn, der aus den Worten des kleinen Jungen sprach.

Ähnlich nun, so fuhr der Baal Schem Tov fort, ist G-tt (gleichsam) mit heiligen und wichtigen Dingen sehr "beschäftigt". Wenn immer aber ein Jude sich an Ihn mit einem Gebet oder einer Bitte wendet, dann unterbricht Er sofort Seine G-ttliche "Beschäftigung" und "Konzentration" und wendet sich, stattdessen, den Gebeten und Verlangen Seiner Kinder zu.

So ist G-ttes Liebe zu uns in der Tat eine große, ungeachtet unserer menschlichen Schwächen. Als G-tt zu Seinen Malochim ("Engeln") sagte, Er wolle einen Menschen machen, fragten diese Ihn, was für eine Art von Geschöpf der Mensch denn sein würde. Als sie hörten, dieser werde ein sterbliches, begrenztes Geschöpf aus Fleisch und Blut sein, fragten sie den Ewigen: "Welchen Nutzen wird ein solches Geschöpf überhaupt schon bringen können?"

Aber: Wenn der Jude früh am Morgen aufsteht, seine Tefillin anlegt und zu G-tt betet; wenn er im Laufe des Tages, obwohl er mit geschäftlichen Sorgen zu kämpfen und insgesamt sehr viel zu tun hat, sich dennoch von diesen abwenden kann, um einem anderen einen Gefallen zu tun, oder um etwas Tora zu lernen – nun, dann ruft G-tt Seine Malochim zusammen und teilt ihnen mit, wie stolz Er auf den Menschen ist. Er sagt:

"Ihr Malochim seid vergeistigte Wesen. Ihr habt keine so schweren Lasten zu tragen wie der Mensch, der Frau und Kinder ernähren muss; Ihr wisst nicht, was es heißt, sich zu sorgen und abzuplagen; Ihr braucht keine Steuern zu zahlen. Der Mensch aber trägt all diese Lasten, die Ich ihm aufgebürdet habe. Er muss Frau und Kinder ernähren, er hat viele andere Verpflichtungen, er muss Steuern aufbringen und das schwere Joch des Exils tragen. Und dennoch: Seht einmal und nehmt zur Kenntnis, wie wunderbar er sich jeden verhält!"