Die dieswöchige Sidra Kedoschim enthält die berühmte und oft zitierte Vorschrift (Lev. 19, 18): "Liebe deinen Nebenmenschen wie dich selbst." Wir müssen den Nebenmenschen so intensiv lieben, dass wir wenn wir um Hilfe angegangen werden, ganz unwillkürlich und sofort Beistand leisten und uns dieser Aufgabe nicht – durch ein Missverständnis des Begriffs "Glauben" – zu entziehen suchen. Dies sei zuerst einmal näher erläutert.
Alles in unserer physischen Welt Existierende hat eine "Parallele" im Bereich des Geistigen, denn alles Materielle geht auf eine spezifische geistige Quelle zurück, sozusagen sein "Gegenstück". Als Geschöpfe in dieser Welt müssen wir danach streben, "von unten nach oben" vorzudringen, also danach trachten, das Spirituelle dadurch zu begreifen, dass wir jeweils sein materielles "Gegenstück" untersuchen. Wir bemühen uns, g-ttliche Attribute und Handlungen durch eine Überprüfung ihrer menschlichen "Parallel"-Gesichtspunkte zu verstehen. Unsere Geistesriesen dagegen, die näher in "Verbindung" mit dem G-ttlichen stehen: ihnen ist es gewährt, "von oben nach unten" zu verstehen; sie können gewisse Vorgänge im menschlichen Körper durch Analogien vom "oberen Reiche" erklären.
Im Jahre 1894-95 entdeckten Mediziner im menschlichen Gehirn ein vordem unbekanntes Blutgefäss, das im Zusammenhang mit Gedächtnis und Konzentrationsvermögen eine beachtliche Rolle spielt. Groß war die Aufregung, als dies R. Schalom Dov Baer von Lubawitsch (1869-1920) berichtet wurde. Dieser aber nahm sehr gelassen aus seinem Büchergestell einen Band unveröffentlichter chassidischer Philosophie heraus, verfasst in der Originalhandschrift seines Urgroßvaters, R Dov Baer (1773-1827), genannt der "Mittlere Rebbe". Er schlug den Band auf und wies auf einen darin enthaltenen Absatz hin, der dasselbe Blutgefäss beschrieb! Er beschrieb sogar mehrere seiner physiologischen Eigenschaften.
Als die Gäste dieses außergewöhnliche Manuskript sahen, sagten sie zum Rebben: "Offenbar war Ihr Urgroßvater ein bedeutender medizinischer Wissenschafter!" Er aber erwiderte: "Mein Urgroßvater wusste um diese Blutgefäss durch seine Beziehungen zum 'Übermenschen'. Nachdem er es (auf unerklärbare, mystische Weise) 'oben' wahrgenommen hatte, konnte er davon ableiten, was gleichbedeutend damit im Körper der Menschen hier unten ist."
Nun zum mehr Allgemeinen: Oft ist die Frage gestellt worden: Wenn also alles in der materiellen Welt eine "Parallele" in der Welt des Geistes hat, was könnte dann (beispielsweise) das "Gegenstück", im Reiche des Heiligen, zum Phänomen des Atheismus in der Welt sein? Pharao, Vertreter der atheistischen Philosophie, sagte in Ägypten: "Mir gehört der Nil, ich habe ihn gemacht." (Ezekiel 29, 9) Welches "Gegenstück" besteht im Reich des Geistigen zu diesem "ich habe ihn gemacht"? – Darauf nun kann man folgendes antworten:
Wenn ein Jude von seinem Nebenmenschen um materielle oder spirituelle Hilfe angegangen wird, dann mag er plötzlich eine "super-heilige" Pose annehmen wollen. Da mag er zum Beispiel sagen: "Wir müssen uns auf unseren Vater im Himmel verlassen, der doch über die ganze Welt regiert. Er sorgt sich um die Bedürfnisse jedes einzelnen – erwartet Er da von mir, dass ich mich in Seine Geschäfte einmische? Ich bin sicher, dass du jeden Pfennig erhalten wirst, der Dir zusteht. Daher brauche ich dir nicht zu helfen; du musst nur G-ttvertrauen haben."
Hier aber ist genau das oben gesuchte "Gegenstück" von Pharaos "ich habe ihn gemacht". Wir dürfen dem Bittsteller eben nicht erwidern: "Verlasse dich auf G-tt allein." Die Tora verlangt von uns nicht, dass wir einen "theologischen Purzelbaum" schlagen, sondern hier gehört das Tora-Wort zum g-ttlichen Plan (Deut. 15, 8): "Du sollst ganz bestimmt deine Hand öffnen."
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