Ein bemerkenswerter Aspekt der Befreiung der Israeliten aus Ägypten (die Einleitung hierzu ist das Thema der dieswöchigen Sidra Wa'era) ist die erregende und dramatische Art und Weise der Umformung all ihrer Wesenszüge, machten sie doch eine ganz plötzliche und gleichzeitig revolutionäre Wandlung sowohl in körperlicher wie in geistiger Hinsicht durch.
Was den physischen Wechsel in ihrem Geschick betriff, so war dieser im höchsten Grade dramatisch. Man muss sich immer vor Augen halten, wie bitter in Wirklichkeit die Versklavung der Israeliten war: Sie waren geknechtet und unterdrückt, in einem Lande, aus dem bis dahin nicht ein einziger Sklave entkommen war (Mechilta, Raschi zu Exodus 18, 9). Sie waren vollständig in der Gewalt eines Pharao, der im Blute jüdischer Kinder badete (Midrasch, zitiert von Raschi zu Exodus 2, 23). Sie waren völlig verarmt; und ihr Körper wie ihr Geist waren durch die schlimmste Art von Fronarbeit gebrochen worden. Dann: Plötzlich! ... Plötzlich ist Pharaos Macht genommen, das ganze Volk ist befreit und die gestrigen Sklaven brechen aus der Gefangenschaft heraus, würdevoll und kühn, "mit ausgestrecktem Arm" (Exodus 6, 6) und mit großem Reichtum (Exodus 12, 38), wie es so dramatisch in der Tora dargestellt ist.
Auf Ebene ging ihre Befreiung nicht weniger umstürzend vonstatten: Nachdem sie auf den niedrigsten Stand von Scheußlichkeit herabgesunken waren, auf das Niveau eines heidnischen Götzenkultes, sind sie plötzlich – beim Durchzug durch das Schilfmeer – in die Lage versetzt, G-tt selbst wahrzunehmen, enthüllt in Seiner ganzen Herrlichkeit. Wenige Wochen später stehen sie alle am Fuße des Berges Sinai, und damit haben sie den höchsten Grad von Heiligkeit und Prophetentum erreicht; G-tt spricht zu jedem von ihnen individuell, ohne Vermittler (nicht einmal Moses ist zunächst eingeschaltet), und verkündet (Exodus 20, 2): "Ich bin der Ewige, dein G-tt".
Was die Tora und die Gebote lehren, ist endlos und ewig, genauso wie G-tt selbst, der sie gegeben hat, unendlich und ewig ist. Ihre Unterweisungen sind daher für alle Zelten und Orte gültig; und sie können – und müssen – im täglichen Leben stets und überall ihre Anwendung finden.
Dies gilt in sehr besonderem Masse für den Auszug aus Ägypten, hat doch die Tora uns spezifisch angewiesen, dieser Ereignisse täglich eingedenk zu sein. Die bedeutsame Lehre, die klar und deutlich aus den Ereignissen dieses Auszuges spricht, ist diese: Der Jude besitzt die innere Fähigkeit, die sehr reale Veranlagung, in kürzester Zeit den Übergang von einem Extrem in das absolute Gegenteil zu machen und durchzumachen.
Diese "Botschaft" der Befreiung aus Ägypten ist besonders zeitgemäß und dringend in unseren eigenen Tagen und in unserer gegenwärtigen Lage, wo Juden – sowohl individuell wie gruppenweise – "aufgewacht" sind und nach einem Wege Ausschau halten, der aus ihrer geistigen Versklavung führt. Sie sind zu jedem Versuch bereit, den Weg zur wahrhaft geistigen Freiheit zu gehen; zuoberst wollen sie von der Furcht loskommen, die ihren Ausdruck in dem Satze findet: "Was wird denn der Nichtjude (der 'Goy') dazu sagen?" Der hier gemeinte (sogenannte) "Goy" nimmt die verschiedensten Gestalten an; dazu gehören die "goyischen" Sticheleien fehlgeleiteter Juden genauso wie der "Goy" in jedem selbst – der "Jezer Hara", der böse Trieb.
An diese "Freiheitssucher" ergeht der Ruf aus unserem und den darauf folgenden Wochenabschnitten: "Bleibt nicht stehen, geht weiter, steigt höher und höher an, 'mit ausgestrecktem Arm'. Dann wird eure Befreiung gesichert und vollständig sein."
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