Am Ende der vorwöchigen Sidra lesen wir (Exodus 5, 22) von Moses' Einwand gegen G-tt: "Warum hast Du Schlechtes diesem Volke gebracht?" Die Dynamik der Frage ist diese: Wie konnte ein Auftrag, der von G-tt ausging, durch Moses zur Ausführung kam und die Erlösung aus Ägypten zum Ziel hatte, dem jüdischen Volke Schaden bringen?

Die Antwort auf diese Frage steht am Anfang der dieswöchigen Sidra (Exodus 6, 2-3): "Ich bin der Ewige, und während Ich dem Abraham, Isaak und Jakob als Allmächtiger G-tt offenbar war, war Ich ihnen mit meinem Namen 'Ewiger' (das ist der unaussprechliche vierbuchstabige Name) nicht erkenntlich." Mit anderen Worten: Abraham, Isaak und Jakob hatten schwere Prüfungen durchzumachen, und doch erhoben sie keine derartigen Fragen – oder Einwande – gegen G-tt.

Hier ergeben sich sofort mehrere Schwierigkeiten:

  1. Moses stand, nach übereinstimmender Ansicht, auf einem höheren geistigen Niveau als die Stammväter. Wie konnte er da G-ttes Handlungen in Frage stellen, wo jene dies nicht getan hatten?
  2. In Seiner Antwort betonte G-tt ausdrücklich die Tugend der Väter. Warum sagte Er da nicht: "Ich war ... dem Israel offenbar", statt "dem Jakob"? Denn "Israel" deutet – wie wir schon öfter ausgeführt haben – eine höhere geistige Stufe als "Jakob" an.
  3. Alles in der Tora ist moralische Anweisung für jeden Juden; und überall ist sie darauf bedacht, sich nicht unhöflich auszudrücken, nicht einmal über ein Tier (s. Talmud, Pessachim 3a), geschweige denn einen Juden, geschweige denn Moses, den größten Juden. Wenn sie also hier Moses (sozusagen) kritisiert, hat sie vermutlich einen guten Grund dafür – nämlich allen Juden einzuschärfen, dass sie den Stammvätern nacheifern sollen, die G-ttes Weltenlenkung niemals anzweifelten. Daraus würde aber folgen, dass jeder Jude in jeder Generation die Wahl hat: Wem soll er den Vorzug geben?

Die Antwort zeichnet sich ab, wenn man sich des hauptsächlichen Unterschiedes zwischen Moses und den Stammvätern bewusst ist, wie folgt: Moses verkörpert das Attribut von Weisheit (Chochma), weshalb er es war, der dem Volke die G-ttliche Weisheit – die Tora – übermittelte. Demgegenüber verkörperten die Stammväter die Gefühle (Middot). Abraham in erster Linie die Liebe (vgl. Jesaja 41, 8), Isaak die einfache Gerechtigkeit und Furcht (vgl. Genesis 31, 42); Jakob schließlich stand unter dem Einfluss der Gnade, das ist die vollständige Synthese von Liebe und Furcht, von Güte und Gerechtigkeit. In all diesen Dingen war Jakob "ganz", ein Zustand von Vollkommenheit (vgl. Genesis 33, 18; Talmud, Schabbat 33a).

Natürlich besagt dies nicht, das; die Vorväter nicht auch Weisheit hatten, oder dass Moses keine Gemütsbewegungen kannte; für beides gibt es positive Belege in der schriftlichen und der mündlichen Lehre. Die Frage ist nur, welches Attribut vorrangig war und welches sekundär. Vorrangig bei Moses war die Weisheit, bei den Vätern das Gefühl.

Nun lässt sich verstehen, wieso Moses, ungeachtet seiner höheren Einstufung, G-tt die oben zitierte Frage stellte, während die Vorväter nichts Ähnliches getan hatten. Denn Weisheit – oder Wissenschaft – möchte alles begreifen; und sollte da etwas nicht verstanden werden, dann wäre damit dem weiteren Dienst an G-tt gleichsam eine Schranke gestellt. Aus einem ganz bestimmten Grunde wollte Moses eine Antwort haben, eine Erklärung des ihm Unverständlichen – damit er dann weiter, durch Weisheit, zu G-tt voranschreiten konnte.

G-ttes Antwort jedoch stellte in den Brennpunkt eine neue Erkenntnis, nämlich dass von nun an die in dem vierbuchstabigen Namen verankerte kosmische Einheit Gültigkeit haben musste. Er sagte ihm dieses: Wenn du an der Schwelle der G-ttlichen Enthüllung stehst, die in der Offenbarung der Tora ihren Höhepunkt finden wird, dann musst du über die bisher erkennbare kosmische Teilung, die Spaltung von Wissen und Gefühl, erhaben sein. Vielmehr musst du in einem Glauben stark sein, der keine Fragen stellt; und so wie Jakob – im Gegensatz zu Israel – "unten" ist, so muss deine erhabene Weisheit sich mit dem "Unteren", dem einfachen Glauben, verbinden und vereinigen.