In der vorwöchentlichen Sidra zeigte uns die Tora, wie Josef, nunmehr Vizekönig von Ägypten, seine Brüder auf ihre brüderliche Einstellung zueinander prüfte. Er befahl seinem Diener, einen silbernen Becher im Getreidesack seines jüngsten Bruders Benjamin zu verstecken. Später beschuldigte er Benjamin des Diebstahls; seinen anderen Brüdern stellte er es frei, nach Hause – nach Kanaan – zurückzukehren, aber Benjamin müsse als sein Sklave bei ihm bleiben. Dabei hatte der greise Jakob seinem jüngsten Sohne Benjamin die Reise nach Ägypten nicht gestatten wollen, bis Jehuda schließlich das feierliche Versprechen abgegeben hatte, persönlich für Benjamins unversehrte Rückkehr zu bürgen. Es war daher Jehuda, der im kritischen Augenblicke vortrat, um bei dem Vizekönig Fürbitte einzulegen; und mit diesen Worten beginnt nun die dieswöchentliche Sidra (Genesis 44, 18): "Und Jehuda trat näher an ihn heran ..." (an Josef).
Wie der Midrasch erzählt (Bereschit Rabba 93, 6), war Jehuda, als er sich Josef näherte, auf alle Möglichkeiten vorbereitet; er war sogar zu einer Kriegserklärung bereit! Das erscheint überaus erstaunlich. Wie konnte Jehuda sich für berechtigt halten, das Wagnis eines nahezu selbstmörderischen Gefechtes ins Auge zu fassen, wo er und seine Brüder doch nur eine ganz kleine Schar waren, während Josef ganz Ägypten beherrschte? Allerdings war Jehuda außergewöhnlich stark; aber Josef und seine Söhne waren noch stärker. Als Jehuda und seine Brüder ihre Füße gestampft hatten, um so Josef Angst einzujagen (Ibid., 93, 7), hatte ganz Ägypten gebebt; doch Josef hatte unverzüglich Ähnliches getan, was Jehuda zu dem Ausrufe veranlasste: "Nanu, er ist ja noch stärker als ich!"
Der Grund für Jehudas grimme Entschlossenheit, es bis auf die Selbstaufopferung ankommen zu lassen, lag darin, dass er persönlich die Verantwortung für Benjamin übernommen hatte. Obwohl sein Vater noch elf andere Kinder hatte, war er bereit, sein Leben für ein jüdisches Kind einzusetzen, und zwar weil er das Joch der Verantwortung für es trug.
Dieser Vorfall sollte jedem Vater und jeder Mutter eine Lehre und eine Anweisung geben. Sie sind es nämlich, denen G-tt die persönliche Verantwortung für jedes ihrer Kinder übertragen hat. Sie sind es deshalb auch, die zur äußersten Selbstaufopferung bereit sein müssen, selbst für ein Kind – um dafür zu sorgen, dass es eine völlig unverfälschte jüdische Erziehung genießt, dass ihm nichts Schlimmes widerfährt, dass es nie, G-tt behüte, dem Judentum verloren gehen könnte.
Als Jehuda sein persönliches Eintreten für Benjamin zu begründen suchte, sagte er (Genesis 44, 32): "… denn dein Diener hat für den Jüngling gebürgt" usw. Denselben Ausdruck für Verantwortung finden wir in Bezug auf alle Juden angewendet: "Alle Juden sind Bürgen für einander" (Torat Kohanim, zitiert von Raschi zu Lev. 26, 37). So betrachtet, geht die obige Ermahnung noch weit über die eigenen Kinder hinaus; und obwohl dadurch eine ganz große Selbstaufopferung verlangt wird, sind wir verpflichtet, darauf zu achten, dass auch nicht ein Jude – GANZ GLEICH, WER ER AUCH IST – und nicht ein einziges jüdisches Kind dem Judentum und der Beobachtung von Tora und Mizwot verloren geht.
***
Daraus, ergibt sich eine direkte moralische Verpflichtung für jeden Vater und jede Mutter, denen G-tt die Verantwortung für jedes einzelne ihrer Kinder anvertraut hat. Sie müssen "Messirat Nefesch" beweisen, das ist totale und absolute Hingabe und Sorge für jedes einzelne Kind, um all die Gefahren zu vermeiden, die auch nicht ein einziges jüdisches Kind befallen sollten. "Messirat Nefesch" für die reine, unverfälschte Erziehung unserer Knaben und Mädchen führt in gerader Linie zum letzten Vers unserer Sidra (Genesis 47, 27): "Und sie waren fruchtbar und vermehrten sich sehr."
Raschi zitiert einen Midrasch, in dem dieses Thema von jüdischer Erziehung noch von einer anderen Seite her beleuchtet wird: Als Jakob nach Ägypten übersiedelte, da (Genesis 46, 28) "sandte er Jehuda vor sich … nach Goschen’l’horot’ (um anzuweisen)". Raschi erklärt aufgrund des Midrasch, dass diese Wort "L’horot" auf die Gründung eines Lehrhauses Bezug nimmt, eines Hause also, von welchem "hora’ah" (Belehrung) ausging.
Als so der Ewige den Jakob anwies, nach Ägypten zu gehen, war letzterer zuerst einmal ("vor sich") darauf bedacht, Jeschiwot einzurichten. Obwohl G-tt versprochen hatte, mit ihm zu sein (s. Genesis 46, 4), war Jakob noch vorher darum bemüht, Jeschiwot zu gründen; und erst dann machte er sich selbst auf den Weg, weil doch Jeschiwot die Grundlage und Hauptstütze des Judentums sind.
Wie der Talmud betont (Joma 28b), existierten diese Jeschiwot während der ganzen Zeitspanne, die unsere Vorfahren in Ägypten verbrachten. Zu allen Zeiten und an allen Plätzen, wo Juden lebten, selbst im furchtbaren ägyptischen Exil, gab es Jeschiwot zum Studium der Tora, und zwar weil diese das eigentliche Lebensblut des jüdischen Volkes sind.
Die Tora ist nicht ein bloßes Geschichts- und Geschichtenbuch, sondern jedes Thema, jedes Ereignis, jeder Buchstabe in der Tora gibt Anweisung für alle Zeitalter und alle Orte. Was die heutige Zeit betrifft, so behaupten manche Leute, dies sei nicht der richtige Augenblick für die Einrichtung von Jeschiwot: "In dieser schweren Zeit genügt eine Talmud-Tora-Schule vollauf; und sollten Jeschiwot notwendig sein, dann doch gewiss nicht solche, wie sie früher einmal, in längst vergangenen Tagen, bestanden haben." Diese und ähnliche Einwände lassen sich vernehmen.
Die Lehre ist aus dem ägyptischen Exil zu ziehen: Es gab keine schlimmere Periode in der ganzen jüdischen Geschichte als die damalige; die Umstände waren ungleich schwieriger als die heutigen. Dennoch wurden diese außer acht gelassen, und die Tora wurde gelernt. Heute dagegen, wo das Exil nirgends so hart ist wie damals und daher das Tora-Studium unbeschwerter durchgeführt werden kann, müssen alle anderen Überlegungen beiseite gelegt werden: Es muss Jeschiwot geben.
Diskutieren Sie mit