1. Es steht im Wochenabschnitt „Dies sind die Wanderungen der Kinder Israels, welche herauszogen aus dem Land Ägypten. Wanderungen steht in der Mehrzahl, d. h. es waren also viele Wanderungen, durch die die Kinder Israels Ägypten verlassen haben. Dazu wird, wie bekannt, die Frage gestellt, dass doch die Juden bekanntlich Ägypten in nur einer einzigen Wanderung verlassen haben – der Wanderung von Ramses nach Sukkot (die anderen Wanderungen fanden nach dem Auszug der Juden aus Ägypten statt) – warum steht also „Wanderungen“ in der Mehrzahl?
Ebenso bedarf es einer Erklärung, warum zweiundvierzig Wanderungen nötig waren, um die Juden aus Ägypten heraus hin ins Land Israel, in das gute und weite Land zu führen. Denn gleich mit der ersten Wanderung, mit dem Verlassen von Ägypten (hebr. „Mizrajim“ – Anm. d. Übers.), welches mit dem Wortstamm „zar“ verwandt ist und für Verengungen und Grenzen steht, gelangt man doch von selbst an einem Ort der Weite. Weshalb sind also zum Gelangen in die Weite 42 Wanderungen notwendig?
Es ist aber so, dass es in Bezug auf Enge und Weite viele Abstufungen gibt. Was für eine niedrigere Stufe weit ist, ist für eine höhere Stufe bereits eng. Dies wiederholt sich, bis man mit der letzten Wanderung in die wahre Weite gelangt, nach Jarden–Jericho, was sich auf Moschiach, den Gesalbten, bezieht, von dem geschrieben steht dass er „riecht und richtet“1 (Dessen Urteilsvermögen aufgrund der offenbarten G“ttlichkeit so unmittelbar ist, wie sein Geruchssinn – Anm. des Übers.). Denn jede vorherige Stufe bringt zwar in die Weite, ist aber wiederum für die nächste Stufe eine Enge.
Und dies ist die Bedeutung der 42 Wanderungen, welche den Weg von Ägypten, dem Ort der Enge, bis in das gute und weite Land bezeichnen. Mit der ersten Wanderung verlässt man Ägypten und gelangt somit ins Weite. Da aber die Stufe, die man mit dieser Wanderung erreicht, für nächste Stufe eine Enge darstellt, beweist dies, dass man Ägypten, das Land der Enge, noch nicht überwunden hat. Um auch diese Enge zu überwinde, dafür bedarf es einer weiteren Wanderung. Daher steht geschrieben „Dies sind die Wanderungen (in der Mehrzahl)... welche herauszogen aus dem Land Ägypten, da auch die übrigen Wanderungen das Ziel hatten, aus Ägypten herauszuziehen, bis man letztendlich nach Jarden-Jericho, dem Gipfel dieses Aufstiegs gelangt.
2. Die Tora ist bekanntlich in jeder Generation ewig. Dies gilt ganz besonders für das Thema des Auszugs aus Ägypten, von dem geschrieben steht2 „es ist die Pflicht eines Menschen, sich so zu sehen, als ob er heute aus Ägypten ausgezogen wäre“. Dies ist eine Anweisung für den G“ttesdienst: auch wenn man für sich eine Stufe des Dienstes jenseits von Sinn und Verstand erreicht hat, welche Abmessung und Begrenzung übersteigt und also auch das Ägypten der Heiligkeit (Gemäß der Chassidus-Lehre steht dem Ägypten der anderen Seite ein Ägypten der Heiligkeit gegenüber – Anm. d. Übers.) überwindet, so ist dies noch nicht genug, denn aus Sicht der nächsthöheren Stufe, gehört dies immer noch zu Ägypten, woraus sich von selber ergibt, dass man weiter arbeiten und weiter gehen muss.
Dies kann man auch anhand der Bedeutung des G“ttesdienst des Gebets verstehen. Denn dies – der Dienst des Gebets – kennzeichnet die Arbeit des Menschen, wie man aus dem bekannten Unterschied3 zwischen Tora und Gebet erkennt. Denn während die Tora von oben kommt und nach unten geht, kommt das Gebet von unten und geht nach oben, es ist „eine Leiter, die auf der Erde steht und ihr Kopf reicht bis in den Himmel4 und so aus der Enge ins Weite führt.
Nun ist bekannt, dass es im Gebet viele Steigerungen gibt, wobei man mit jeder Steigerung den vorhergehenden Ort verlässt, was aber wiederum auch nicht ausreicht, weshalb es einer weiteren Steigerung bedarf.
Die erste Aufgabe ist die Vorbereitung zum Gebet. Denn wie kann überhaupt ein Mensch zu G“tt, dem unbegrenzten und unfassbaren beten, da er – der Mensch – sich doch in tierischen Körper und tierischer Seele befindet? Ganz besonders wenn man durch Verfehlungen beschmutzt ist, wie kann man sich dann hinstellen und beten? Um dies zu ermöglichen, muss man sich zuerst aller Inhalte der eigenen Existenz entledigen, dann ist man bereit zum Gebet.
Allein dies – das sich Hinstellen zum Gebet, noch bevor man das Hodu, noch bevor man das Ma Towu gesagt hat, allein das man sich den Gartel (Gemäß der Halacha ist es dem Manne verboten ohne Gürtel zu beten. Um dieses Gebot besonders schön zu erfüllen, legen viele Juden zum Gebet einen besonderen Gürtel – den Gartel oder Awnet – an. – Anm. d. Übers.) umbindet und sich hinstellt, allein dadurch befreit man sich von allen eigenen Inhalten und wird so geläutert. Man verlässt also, mit anderen Worten, auf diese Weise bereits die Einengungen und Begrenzungen.
Auf diese Weise kann man auch die Bedeutung von dem verstehen, was im offenbarten Teil Tora steht, dass sich nämlich ein Mensch vor dem Gebet zurückziehen und seine Hände waschen (wörtich נטילה – hebr. „Nehmen“ – Anm. d. Übers.) solle5. „Sich zurückziehen“ bedeutet das Ausscheiden des äußerlichen und des innerlichen Abfalls. Danach wäscht man die Hände, um von ihnen die Unreinheit zu nehmen. Obschon sich diese Unreinheit auch nur auf den Bereich der Umgebung bezieht und in keiner Weise auf die Innerlichkeit Einfluss hat6, so muss doch man sich auch von ihr vor dem Gebet befreien.
Damit ist hat seiner Pflicht noch lange nicht genügt, aber nun darf man sich hinstellen und das Gebet beginnen. Am Anfang sagt man „Hodu“ (Hebr. „Lobet“. Die eigentliche Abfolge des Morgengebets beginnt mit einer Reihe von Lobgesängen, welche dem sefardischen Ritus zufolge mit „Hodu“ anfangen. – Anm. d. Übers.) und verlässt damit jene Realität, in der man sich seit der Vorbereitung auf das Gebet befindet und welche vom Standpunkt der nächsthöheren Ebene aus immer noch Einengungen und Begrenzung bedeutet. Aus dieser Enge geht man nun an den Ort der Weite.
So gibt es auch im Gebet an sich etliche Steigerungen, welche sich, allgemein gesprochen, in vier Phasen teilen7, (Diese Steigerungen beruhen bekanntlich auf dem g“ttlichen Namen), wobei jede Steigerung vom Standpunkt der nächsthöheren Ebene aus immer noch den Aspekt von Enge und Grenzen trägt.
So kommt man schließlich zum Achtzehngebet, welches den Gipfel des Aufstiegs darstellt. Man lässt die eigene Existenz ganz hinter sich (obgleich auch diese auch schon durch die Arbeit auf den vorherigen Stufen schon veredelt sein sollte) und steht in völliger Selbstaufgabe, wie ein Knecht vor dem Herren und sagt: „Mein Herr, öffne meine Lippen damit mein Mund Deinen Ruhm verkünde“. G“tt soll meine Lippen öffnen, ich werde (die Worte) nur nachsprechen.
3. Man sieht also im Achtzehngebet zwei einander widersprechende Tendenzen a) vollkommene Selbstaufgabe: man ist kein eigenständiges Wesen mehr, sondern sagt nur noch das Vorgesagte nach8. b) das Bitten um die eigenen Bedürfnisse, geistiger und materieller Natur. Bitten diese Art finden weder in den Versen des Lobes, noch in den Segenssprüchen des Schma-Jisrael oder gar im Schma-Jisrael selber (weil man ja seine eigene Existenz abgelegt hat, wie oben erklärt wird). Ausgerechnet im Achtzehngebet tauchen nun Bitten um physische Bedürfnisse auf.
Die Erklärung ist, dass es gerade der Gipfel des Aufstiegs ist, an dem die Gegensätze zwischen zwei Tendenzen aufgehoben werden. Und wie man bereits beim Vortrag gesagt hat – je höher der Ort, desto größer die Aufhebung der Gegensätze. Dies ist eine Vorschau auf die zukünftigen Offenbarungen, denn dann wird es so sein, dass alles Fleisch G“ttlichkeit erfahren. Und wenn G“ttlichkeit vom physischen Fleisch erfahren wird, so ist auch das die Überbrückung zweier Gegensätze.
4. Doch ungeachtet der Tatsache, dass das Achtzehngebet den Gipfel des Aufstiegs darstellt, so muss man doch auch morgen, vor dem Gebet die notwendigen Vorbereitungen treffen, danach das Hodu, danach die Verse des Lobes usw. sagen. Denn so hoch man auch am gestrigen Tag gestiegen sein mag – in Bezug zu der Stufe, die man heute erreichen sollte, stellt sie doch eine Begrenzung dar.
Wie beim G“ttesdienst des Gebetes, so auch beim G“ttesdienst im Allgemeinen. Ein Mensch muss ein Gehender sein. Auch nachdem er sich ganz vom Schlechten getrennt hat, und ganz gleich wie hoch er gelangt ist, so muss er doch wissen, dass all das noch nicht genug ist, denn von einer höheren Ebene aus betrachtet, ist seine Stufe immer noch mit dem Schlechten verbunden.
Von dem oben gesagten kann man sich leicht überzeugen, wenn man daran denkt, wie sehr man im Nächsten noch Schlechtes wahrnimmt. Der Ausspruch des Baal Schem Tow, seine Seele ist in Eden9, dass wenn ein Mensch Schlechtes am Anderen sieht, dies beweist, dass er dasselbe Schlecht in sich trägt, wenn auch u.U. auf feinere Weise.
Und auch dieses Schlechte muss man verlassen indem man sein physisches Fleisch läutert. Nicht etwa, indem man es durch Fasten und Kasteiungen quält, sondern indem man es veredelt, wie es aus der bekannten Erläuterung des Baal Schem Tow, seine Seele ist in Eden, zum Schriftvers10 „Wenn du den Esel deines Hassers siehst“ hervorgeht. Sobald der Esel aufsteht, soll man den Esel – also seine materielle Existenz (Esel – hebr. Chamor, ist mit dem Wort Chomer (physische Materie) verwandt. – Anm. d. Übers.) – einspannen. Denn gerade eben durch die materielle Existenz kann man die Offenbarung der Zukunft – und alles Fleisch wird schauen – erreichen, denn das Fleisch wird soweit veredelt und geläutert werden, dass es G“ttlichkeit sehen kann.
5. Nun könnte man selber behaupten: „Ich habe mich lange bemüht, um das grobe und offene Schlechte loszuwerden und ich stehe nun auf einer höheren Stufe. Wer sagt, dass ich mich weiter abplagen muss? Mir reicht die Stufe, auf der ich mich befinde, völlig aus.“
Darauf sagt man ihm, dass es die Aufgabe und der Zweck des Menschen ist ein Gehender und kein stehender zu sein. Und jeden Tag, den uns G“tt gibt, müssen wir unsere Aufgabe in der Welt erfüllen, wie geschrieben steht „auch die Tage, die Er noch formen wird, Ihm sind ein Eines“11. Und dies ist auch die Anweisung der Wanderungen: Man darf sich niemals mit dem bereits erreichten zufrieden geben, wie oben erklärt wurde.
6. Von der anderen Seite, lautet die Anweisung der Wanderungen: auch wenn man sich am tiefsten Punkt und der niedrigsten Stufe befindet, so soll man doch niemals verzweifeln. Denn durch den G“ttesdienst kann man jederzeit die Situation verlassen, in der man sich befindet und selbst die höchste Stufe erreichen.
Man sollte sich nicht denken „Da ich mich ja in einer so niedrigen Situation befinde, und ein Mensch seine Seele kennt, so wäre doch meine ganze Mühe umsonst“. Wie wir aus der Bedeutung der Wanderungen lerne, lautet darauf die Anweisung, dass man selbst mit einer einzigen Wanderung aus Ägypten ziehen, und in ein gutes und weites Land gelangen (relativ zur gegenwärtigen Stufe, und von dort weite rund weiter gehen kann, bis man den Gipfel des Aufstiegs erreicht hat).
Damals, als die Juden in Ägypten waren und in den neununddreißig Toren der Unreinheit12 weilten, damals war die Tora noch nicht den Juden gegeben worden und das Gesetz, demzufolge es keinen Kontakt zwischen Rom und Syrien geben darf13, war noch in Kraft (Vor der Übergabe der Tora, war es den Menschen nicht möglich eine dauerhafte Verbindung zwischen der physischen Welt und den geistigen Welten zu schaffen. Mit der Übergabe der Tora wurde den Juden diese Kraft gegeben, wie sich an der andauernden Heiligkeit von Gegenständen wie Tefilin zeigt. – Anm. d. Übers.). Und trotz all dem gelangten die Juden doch durch diese Wanderungen in das gute und weite Land.
Wenn dies damals möglich war, dann ist es heute umso mehr möglich, denn so niedrig man auch sein mag, so ist doch der G“ttesdienst wesentlich klarer, da nur noch kleine Gefäße (Gemäß der jüdischen Tradition, haben die Juden die Aufgabe g“ttliche Funken, welche sich in dieser Welt verbergen zu erlösen indem sie sie wieder ihrer g“ttlichen Bestimmung zuführen. Wir befinden uns in der letzten Phase dieser Arbeit, da die meisten Funkten bereits erlöst wurden. – Amn. d. Übers.) eingesammelt werden müssen und da wir ja bei der Übergabe der Tora dafür die erforderlichen Befugnisse erhalten haben, als der König aufstand und das Gesetz außer Kraft setzte und man nun die oberen und die unteren Welten verbinden darf.
Dies gilt umso mehr, wenn jene Verbindung zwischen dem Rebben und den Chassidim vorhanden ist, da der Rebbe – Seine Heiligkeit der Admor – die Juden mit dem Wesenskern verbindet. Durch all dies wird man doch gewiss, dass jeder Jude über die Kräfte verfügt, um aus seinem Zustand und seiner Befindlichkeit herauszugehen und in ein gutes und weites Land zu kommen, bis nach Jarden-Jericho, zur Offenbarung von Moschiach, der riecht und richtet14 und damit Sinn und Zweck der Weite bezeichnet.
7. Demzufolge wird man auch die Verbindung zwischen dem Wochenabschnitt Matot-Masej zu der Zeit „zwischen den Engen“ („Zwischen den Engen“ – bezeichnet die Zeit zwischen dem 17. Tammus und dem neunten Aw. Während dieser Zeit gedenken wir der Belagerung und Zerstörung Jerusalems und der ersten beiden Tempel. – Anm. d. Übers.) verstehen, denn so wurde es ja eingerichtet, dass die Wochenabschnitte Matot und Masej immer in der Zeit „zwischen den Engen“ gelesen werden.
Dies wird man verstehen, indem man das Konzept des „abreißen um zu bauen“ erläutert, welches bedeutet, dass die ganze Absicht bei der Zerstörung darin besteht, ein schöneres Gebäude zu errichten, wie es aus den Ausführungen des Baal Schem Tows zum Schriftvers15 „und eine Zeit der Bedrängnis ist sie dem Jaakow, und aus ihr wird er erlöst“ hervorgeht, dass man also durch die Bedrängnis an sich zur Erlösung gelangt. Auch dies ist wieder die Aufhebung zweier Gegensätze. Deshalb liest man in dieser Zeit Matot und Masej, da Matot auf die Aufhebung der Gegensätze hindeutet, wie im Vortrag erläutert wurde, der vorhin gehalten wurde. Masej steht für das Herausgehen aus der Zeit zwischen den Engen und schärft uns ein, dass man sich niemals – auf welcher Stufe man auch immer stehen mag – von der Umgebung einschüchtern lassen darf, sondern wissen muss, dass man es eben gerade jener Stufe verdankt, dass man letztendlich nach Jarden-Jericho gelangen wird.
Und dies ist auch die Bedeutung von Menachem Aw, welches auf Tröstung hindeutet, da ja, in Wahrheit, alles zum Guten ist, wie es aus der Parabel des Vaters, welcher sein Kind schlägt, ersichtlich ist, weil er eben sein Bestes will. Wenn man diese Parabel betrachtet, wird man sehen, dass dies tatsächlich gut ist. Und dies ist nicht nur mit den Augen des Verstandes ersichtlich, sondern es wird auch herunter projiziert, so dass man es auch mit fleischlichen Augen sehen kann, und so in ein sichtbares und offenbartes Gutes verwandelt, so dass auch jene, welche auf der Stufe von „auch dieses ist zum Guten“16 standen, nun auf der Stufe von „alles was G“tt tut, ist gut getan“17 stehen. Es ist tatsächlich nötig das G“tt den Kot der Töchter Zions abwäscht18 wie auch im Buch Tanja19 die Parabel eines großes und mächtigen Königs steht, der höchst persönlich den Kot seines einzigen Sohnes abwäscht. Dies ist aber alles trotzdem ein Akt der Gnade und der Barmherzigkeit (d.h. nicht nur, dass der Akt an sich gut ist, auch die Qualen sind letztendlich Gnade und Barmherzigkeit), wie es auch dort steht „sein barmherziger, gerechter und frommer Vater“. Da nun auch der Inhalt der Qualen Gnade und Barmherzigkeit ist, wird dies letztendlich offenbart werden, so das alles als sichtbares und offenbares Gutes erweist und sich die Sorge allein in strahlendes Licht verwandelt.
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