Jeder weiß, dass Rom nicht an einem Tag gebaut wurde. Fast alle Bauunternehmer benutzen diese Redensart als Ausrede, um Verzögerungen zu rechtfertigen. Aber wussten Sie, dass Jerusalem und das Heilige Land ebenfalls nicht an einem Tag erbaut wurden?
Im neuen Wochenabschnitt verkündet der Allm-chtige den Juden, dass sie Kanaan nicht sofort erben werden. Es sei zu ihrem Besten, das Land allmählich und bewusst zu erobern. Es werde einige Zeit dauern, es zu besiedeln, und darum sei Geduld notwendig:
„Ich werde sie nicht in einem einzigen Jahr vor euch vertreiben, damit das Land nicht verwüstet wird und das Wild auf dem Feld sich nicht zu sehr vermehrt. Nach und nach werde ich sie vor euch vertreiben, bis ihr fruchtbar seid und das Land zu eurem Erbe macht“. (Exodus 23:20-30)
Schnell gefasste Entschlüsse sind oft nicht dauerhaft. Bleibenden Erfolg haben wir meist nur, wenn wir Schritt für Schritt denken und handeln.
Jeder Jude hat seinen Anteil am Gelobten Land, nicht nur geografisch, sondern auch spirituell. In jedem von uns ist ein Stück Jerusalem. Wir alle können heilig und spirituell sein. Doch manchmal fürchten wir uns, die Reise in unser eigenes Gelobtes Land zu beginnen. Der Weg sieht so lang und schwer aus. Hier gibt G-tt uns einen klugen, ermutigenden Rat: „Erwartet keine Wunder über Nacht. Sagt nicht: Wie soll ich ein ganzes Land erobern? Sondern sagt: Wo soll ich heute anfangen? Schaut nicht auf das Ende des Weges, sondern auf die ersten Schritte, die ihr jetzt gehen müsst. Morgen geht ihr ein paar Schritte weiter und übermorgen noch weiter. Dann gehört euch bald das ganze Land.“
Wenn Sie einen optimistischen Unternehmer, der eben sein erstes Projekt begonnen hat, fragen würden: „Sind Sie Millionär?“, würde er nicht nein sagen, sondern höchstwahrscheinlich: „Noch nicht, aber ich arbeite daran!“ So sollte es auch bei unserer jüdischen Reise sein.
Franz Rosenzweig (1886–1929) war ein deutsch-jüdischer Philosoph, der sich dem Judentum als junger Mann völlig entfremdete. Aber als Intellektueller war er gezwungen, es wenigstens gründlich zu erforschen. Also ging er in eine Synagoge und erlebte eine spirituelle Transformation. Man sagt, er sei einmal gefragt worden: „Tragen Sie Tefillin?“, und er habe geantwortet: „Noch nicht.“ Er sagte nicht nein, sondern „Noch nicht“, und das ist ein entscheidender Unterschied. „Nein“ heißt, dass ich es jetzt nicht tue und auch in Zukunft nicht vorhabe. „Noch nicht“ bedeutet, dass ich es zwar jetzt nicht tue, aber aufgeschlossen bin: Hoffentlich werde ich einen Tages bereit sein, täglich meine Tefillin anzulegen.
„Noch nicht“ ist eine gute Einstellung. Niemand macht alles richtig. Wir alle können wachsen und sollten nach Höherem streben. Wenn wir jetzt nichts Gutes tun, spricht nichts dagegen, dass wir es in Zukunft tun. Wir dürfen nicht enttäuscht sein, wenn die Reise lang ist. Gehen wir einfach die ersten Schritte, und dann immer weiter. Vielleicht gehen wir langsam, aber wenn wir stetig wachsen, kommen wir ans Ziel.
Wenn Sie also gefragt werden: „Tragen Sie Tefillin?“ oder „Essen Sie koscher?“ oder „Halten Sie den Schabbat ein?“ und wenn Sie es nicht tun, dann sagen Sie bitte nicht nein, sondern: „Noch nicht.“
Diskutieren Sie mit