I. In dieser Parascha lesen wir: „Für jede Art von Übertretung – betreffend einen Ochsen, einen Esel, ein Lamm, ein Kleidungsstück oder irgendeine verlorene Sache – von der (ein Zeuge) sagt: ‚Das ist es (der Gegenstand der Übertretung)‘, das Wort beider soll vor die Richter kommen. Wen die Richter verurteilen, der soll seinem Mitmenschen das Doppelte bezahlen.“1
Die Gemara2 erklärt, dass sich dieser Vers auf einen Verwahrer bezieht, der behauptet, dass der ihm anvertraute Gegenstand auf eine Art und Weise verloren gegangen ist, die ihn von der Verpflichtung zum Schadensersatz befreit – z. B. ein „unentgeltlicher Verwahrer“, der behauptet, dass er entweder gestohlen oder verloren wurde; oder ein „bezahlter Verwahrer“, der behauptet, dass es sich um einen versehentlichen Verlust handelte, der sich seiner Kontrolle entzieht – und der dann einen entsprechenden Eid ablegte.3 Später wurde jedoch festgestellt, dass der Verwahrer eine vorwerfbare Fahrlässigkeit begangen hatte und dass er einen falschen Eid geschworen hatte.4 Daher schreibt die Tora vor: „Das Wort beider soll vor die Richter kommen ... er soll seinem Mitmenschen das Doppelte bezahlen.“
Es ist schon häufiger thematisiert worden, dass alle Aspekte von Nigle, dem offenbarten Teil der Tora, gleichermaßen im rein geistigen Bereich zu finden sind. Gerade weil sie sich im geistigen Bereich befinden, werden sie sich auch in der materiellen Welt manifestieren.
Das Gesetz über Fahrlässigkeit, die unrechtmäßige Verwendung eines treuhänderisch verwalteten Gutes, den Missbrauch eines Eides und die Vorschrift, dass „das Wort beider vor die Richter kommen soll“, sind ebenfalls auf der geistigen Ebene zu finden.
II. Der Rebbe, der Zemach Zedek, erklärt in einem Ma-amar, wie sich der Vers „Für jede Art von Übertretung ...“ auf die geistige Awoda der menschlichen Seele bezieht.
Wir werden Teile dieses Ma-amar wiederholen, mit einigen Ergänzungen, die zur Verdeutlichung dienen können.
Jeder Jude hat ein Pfand, das ihm von G-tt anvertraut wurde, nämlich die Seele.5 Er muss sie hüten, damit sie ganz bleibt und nicht verunreinigt wird, G-tt bewahre. Darüber hinaus muss er die Seele auf eine Ebene erheben, die über ihren Status vor ihrem Abstieg hinausgeht; denn der Abstieg der Seele in einen Körper muss „ein Abstieg zum Zweck des Aufstiegs“6 sein.
Diese Bewachung der Seele beinhaltet auch einen Eid, denn unsere Weisen sagten, dass einer Seele, bevor sie hinabsteigt, ein Eid auferlegt wird: „Sei rechtschaffen und sei nicht böse.“7
„Für jede Art von Übertretung“: Wenn jemand nachlässig mit der Verwahrung umgeht und dem Eid nicht treu ist, was ist dann die Ursache? Die Heilige Schrift erklärt: „betreffend einen Ochsen, einen Esel, ein Lamm, ein Kleidungsstück.“ Dies sind verschiedene Aspekte in der tierischen Seele (wie weiter unten erklärt wird), die zu „irgendeiner verlorenen Sache“ führen, d. h., dass die G-ttliche Seele verloren geht, bis „er sagt: dies ist es“ – d. h., er wird von dem Hu (es) sagen, dass es dies ist.8
Seh, „dies“ – in seiner wahren Bedeutung – bezieht sich auf Heiligkeit und G-ttlichkeit. G-tt allein kann aus zwei Gründen als dies bezeichnet werden:
a) Seh bedeutet „dies ist dies“, und das kann man nur von G-tt sagen.
Das wirkliche Wesen einer geschaffenen Sache ist nicht sie selbst, sondern die G-ttliche Lebenskraft, die sie immer wieder neu entstehen lässt, aus dem Nichts zu Etwas. Um den Ausdruck von Rambam zu zitieren: „Es gibt kein wirkliches Wesen außer Ihm.“9
b) Seh bedeutet „Hier ist es.“ Jeder, egal wo er ist und zu jeder Zeit, kann sagen: „Hier ist es.“ Aber das kann man nur in Bezug auf G-tt sagen. Jedes Geschöpf ist begrenzt, kann nicht überall sein und kann daher nicht als Seh bezeichnet werden. Die Existenz G-ttes jedoch ist jedem bekannt.10 G-tt ist allgegenwärtig, „es gibt keinen Ort, an dem Er nicht wäre;“11 daher kann man nur von Ihm Seh sagen – „hier ist Er.“
Verbergungen und Verhüllungen durch die tierische Seele führen jedoch dazu, dass der Mensch verwirrt ist und von Hu (es) sagt, dass es Seh ist.
III. Unser Vers kategorisiert die spezifischen Ebenen der tierischen Seele in vier Gruppen: Ochse, Esel, Schaf und Kleidungsstück. Der Zemach Zedek erklärt in dem Ma-amar, dass Ochse für „ein stößiger Ochse“ steht;12 Esel steht für „Ein Esel friert sogar in der Sommerzeit von Tammus“;13 Kleidungsstück steht für „Die Verräter handeln sehr verräterisch“;14 Lamm steht für „Israel ist ein versprengtes Schaf.“15
Man muss vor allen Aspekten der tierischen Seele auf der Hut sein, denn sie alle können den Verlust der G-ttlichen Seele verursachen. Dennoch hat jedes Zeitalter seine eigene Kelipa (Aspekt des Bösen), die einen besonderen Kampf gegen sie erfordert. Daher werden wir uns hauptsächlich mit dem Aspekt des „Schafes“ beschäftigen, der sich speziell auf unsere Generation bezieht.
IV. Der Vers „Israel ist ein versprengtes Schaf“ wirft eine Frage auf.
Der Begriff Israel bezeichnet eine Auszeichnung,16 während versprengte Schafe einen Mangel bezeichnen; warum wird dann der Begriff Israel in Verbindung mit versprengten Schafen verwendet? Doch genau darauf will der Prophet hinaus: Das jüdische Volk wird Israel genannt, ein Name, der sich von „Denn du hast mit [Engeln G-ttes] und mit Menschen gestritten, und du hast gesiegt“ ableitet.17 Das bedeutet, dass ein Israelit (ein Jude) nicht nur über Menschen, sondern auch über Engel siegen kann.18 Wie ist es dann möglich, dass es ihm so sehr an Stärke mangelt, dass er allen nachläuft, weil er ein „versprengtes Schaf“ ist?
Dies war das Argument Hamans – des Anklägers oben im Himmel – gegenüber Achaschwerosch, dem Heiligen, gesegnet sei Er, dem Herrn über Ende und Anfang:19 „Es gibt ein Volk, zerstreut und versprengt unter den Nationen ... und sie halten sich nicht an die Gesetze des Königs.“20
„Es gibt am echad, ein Volk“ bedeutet, dass es ein Volk gibt, dessen Wesen echad, Einheit, ist, das in der Lage ist, überall Einheit zu bewirken – sogar auf der materiellen Erde, wie es geschrieben steht: „ein Volk auf Erden.“21 Trotz dieser großartigen Auszeichnung sind sie jedoch „zerstreut und versprengt unter den Nationen“: Sie lassen sich von allen beeindrucken und einschüchtern, und deshalb „halten sie sich nicht an die Gesetze des Königs“ – des Königs des Universums.22
V. Wo immer ein Jude hinkommt, sollte er im Idealfall das geistige Leben, das die wahre Realität ist, der ganzen Stadt und ihrer Umgebung, ja des ganzen Landes, in die Hand nehmen und leiten. Stattdessen aber verliert er sich selbst. Er versäumt es nicht nur, Einfluss zu nehmen, sondern er wird beeinflusst und ahmt alle Torheiten des Landes, der Umgebung oder der Stadt nach.
Anstatt seine Umgebung davon zu überzeugen, den Schulchan Aruch als ihre Autorität in allen Angelegenheiten zu akzeptieren, akzeptiert er die Umgebung als seine Autorität, wobei der Nachbar von nebenan seine letzte Autorität ist, die das gesamte Verhalten in seinem Haushalt leitet.
VI. Das Merkmal „Israel ist ein versprengtes Schaf“, der Mangel an Tapferkeit, geht so weit, dass es sogar in der Erziehung der Kinder zu beobachten ist, die die eigentliche Hoffnung und Grundlage jedes jüdischen Hauses, der ganzen Nation Israel sind. Auch hier ist kein Mut zu erkennen.
Vom jüdischen Volk heißt es, dass selbst in der härtesten Galut, der Galut Ägyptens, „die Israeliten unverwechselbar waren – denn sie änderten ihren Namen, ihre Sprache und ihre Kleidung nicht.“23 In unserer Zeit fehlt es jedoch so sehr an Stolz, dass die Menschen nach allen möglichen Wegen suchen, um zu verhindern, dass das Kind jüdisch aussieht.
Wenn ein jüdisches Kind auf der Straße geht, sollte es eigentlich auffallen, dass es ein Jude ist, da die Bezeichnung „Israel“ eine Auszeichnung ist. Stattdessen schämen sich die Menschen jedoch für ihre Identität und versuchen, sie zu verbergen.
VII. Dies erklärt eine Gemara, die sich mit dem Gebot der Rückgabe verlorener Gegenstände befasst. Die Gemara24 fragt, warum die Tora das Schaf unter diesen25 erwähnen muss, und kommt zu dem Schluss, dass dieser Hinweis auf ein verlorenes Schaf eine unlösbare Schwierigkeit darstellt (denn auch ohne diesen Hinweis wäre es selbstverständlich, dass das Schaf seinem Besitzer zurückgegeben werden muss). Die besondere Erwähnung von Ochse, Esel und Kleidungsstück ist notwendig und lehrt uns besondere Gründe, warum sie zurückgegeben werden müssen, wenn sie verloren gegangen sind (wie in der Gemara erklärt). Dies ist aber nicht der Fall in Bezug auf die Erwähnung von Schafen.
Welche Bedeutung hat der Hinweis auf die Schafe?
Im Zusammenhang mit dem oben Gesagten lässt sich das mit der Awoda des Menschen erklären (zumindest kurz):
a) Der Ochse – stößt; b) der Esel – friert selbst in der Intensität der „Sonne – des Ewigen“ in der Sommerzeit von Tammus;26 c) das Kleidungsstück – diejenigen, die mit der Tora und den Mizwot treulos umgehen. Dass diese drei zurückgebracht werden können, dass sie „zurückkehren und geheilt werden können“,27 ist eine neue Lehre der Tora [d. h. keine Frage selbstverständlicher Logik].
Was jedoch das „versprengte Schaf“ betrifft, das lediglich seine Auszeichnung unter den Völkern verliert, warum sollten wir darüber informiert werden müssen, dass diese Art von Verlust zurückgebracht werden kann? Das folgt doch erst recht aus dem Fall des Ochsen, der sich tatsächlich gegen G-tt auflehnt! Die Antwort: Im Gegenteil, „Das verlorene Schaf stellt eine Schwierigkeit dar“28 – d. h, es ist am schwierigsten zurückzubringen. Wie kann man die Anwendung des Schulchan Aruch erwägen, wenn einem die Grundlage und der Ausgangspunkt aller vier Teile des Tur und des Schulchan Aruch fehlt, nämlich: „Man darf sich nicht von denen beschämen lassen, die einen lächerlich machen wollen“?29 Das ist also das Neue am Fall des Schafes, dass auch ein so schwerer Verlust, der Verlust der Selbstachtung, wiederhergestellt werden muss. Nichts steht der Teschuwa im Wege!30
VIII. Der Vers in unserer Sidra fährt fort und erklärt, dass das Urteil und der Ratschlag, wie man mit der Übertretung hinsichtlich eines verwahrten Gegenstandes umgehen soll – in Bezug auf Ochse, Esel, Kleidungsstück und sogar Schaf – lautet: „Das Wort beider soll vor den Richter kommen.“ Dies bezieht sich auf den ersten Richter Israels, Mosche – und „Die Ausstrahlung von Mosche verbreitet sich in jeder Generation“;31 er inspiriert mit Kraft, Teschuwa in der richtigen Weise zu tun, nämlich: „Er soll Re-ehu (seinem Mitmenschen) das Doppelte zahlen.“ Re-ehu bezieht sich auf G-tt,32 was bedeutet, dass er G-tt das Doppelte im Verhältnis zu seinem Status vor der Sünde zahlen wird, wie es in Iggeret haTeschuwa33 heißt: „Wenn er gewohnt war, eine Seite zu studieren, soll er zwei studieren ...“
Im Gegenzug wird G-tt mit ihm „Maß für Maß“34 umgehen und seine vorsätzlichen Sünden in wahre Verdienste verwandeln,35 und sogar die tierische Seele wird ihm im Dienst für G-tt helfen.
Genauer gesagt: Der Ochsen-Aspekt der tierischen Seele bewirkt „Die Kraft des Ochsen bringt reichen Ertrag.“36 Der Esel-Aspekt wird zu „Jissachar ist ein knochiger Esel“37 – was eine Awoda von Kabbalat Ol bedeutet, analog zum Esel, der zum Tragen einer Last bestimmt ist.38 Der Aspekt „Israel ist ein versprengtes Schaf“ – der auch in dem Vers „Ich habe mich verirrt wie ein verlorenes Schaf“39 zum Ausdruck kommt, d. h., er irrt umher wie ein Schaf, dem es an Stärke fehlt und das sich verirrt hat – dies bringt die Erfüllung von „Suche Deinen Diener“40 und „Ziehe mich zu Dir“41, dass er G-tt auf eine Weise folgt, die Denken und Vernunft übersteigt. Der Aspekt der Kleidung wird zu „Und der Duft deiner Kleider ist wie der Duft des Libanon.“42
Dies ist das allgemeine Prinzip der tierischen Seele, die im Dienst G-ttes mitwirkt, wie es unsere Weisen ausdrücken: „Du sollst den Ewigen, deinen G-tt, von ganzem Herzen lieben“43 – d. h. mit beiden Neigungen (Jezer Tow und Jezer haRa).44
(Adaptiert aus Sichot gehalten an Simchat Tora und Schabbat Bereschit 5715)
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