Zu Beginn unseres Wochenabschnitts wird die Thematik der Gelübde behandelt.1 Durch ein Gelübde enthält man sich einer gewissen Sache, die sonst erlaubt wäre. Es besteht aber die Möglichkeit, das Gelübde wieder aufzuheben. Die Thora sagt, dass dies durch einen Gelehrten geschehen muss.
Wie und warum kann ein Gelehrter ein Gelübde aufheben?
Um dies beantworten zu können, muss zuallererst die Widersprüchlichkeit unserer Meister in Bezug auf den Sinn der Gelübde geklärt werden. Einerseits steht geschrieben: „Gelübde sind ein Zaun um die Enthaltsamkeit.“2 Sie sind gut, da sie dem Menschen helfen, nicht zu sehr in der Weltlichkeit zu versinken.
Andererseits tadeln unsere Meister denjenigen, der ein Gelübde ablegt: „Reicht dir denn nicht, was dir die Thora verbietet!?“3 Sie sind nicht gut, da der Mensch sich der Weltlichkeit mehr enthält, als die Thora von ihm fordert.
Zwei Ebenen
Die verschiedenen Aussagen unserer Meister stehen nicht im Widerspruch, sondern beziehen sich auf verschiedene Menschen. Es gibt Menschen, deren geistiges Niveau noch sehr niedrig ist. Der Drang nach Weltlichkeit ist bei ihnen sehr groß und die Verbote der Thora allein reichen ihnen nicht, um die gewünschte Enthaltsamkeit zu erreichen. Für solche Menschen ist das Ablegen von Gelübden nützlich und sogar erforderlich, denn dies hilft ihnen sich der Weltlichkeit ein wenig mehr zu enthalten und nicht zu sehr darin zu versinken.
Doch bei Menschen, die bereits eine höhere, geistige Stufe erreicht haben und von der Weltlichkeit nicht mehr gereizt werden, besteht keine Gefahr mit der Weltlichkeit zu tun zu haben. Sie dürfen sich sogar auch nicht von Weltlichkeit abschirmen. Denn ihre Aufgabe (wie die jedes Menschen) besteht besonders darin, die Elemente der Weltlichkeit zu heiligen, indem sie sich damit auseinandersetzen.
Deshalb gab es große Zadikim, wie Rabbi Jehuda HaNassi,4 die sehr prunkvoll gelebt haben, denn in ihrer Kraft lag es, diese Elemente der Weltlichkeit zu heiligen.
Die Kraft des Gelehrten
Auf diesem geistigen Niveau befindet sich der Gelehrte: Bei ihm sind Gelübde nicht mehr notwendig. Da seine Kraft stärker ist als die Kraft der Gelübde, kann er einen Menschen von seinem Gelübde entbinden. Der Gelehrte muss aber nicht jeden von seinem Gelübde entbinden und muss nicht jedes Gelübde aufheben. Dies hängt davon ab, ob das Gelübde seinen Sinn erfüllt und den Menschen in seiner Enthaltsamkeit bereits gestärkt hat.
Das Gelübde hat also sein Ziel erreicht, wenn der Mensch ein höheres Niveau erlangt hat und es nicht mehr gebraucht wird. Sodann wird es aufgehoben.
Man soll nicht in einem niedrigen Niveau festsitzen, wo Gelübde notwendig sind. Sondern das Ziel ist es höher zu steigen und sich von den Gelübden loszubinden. Denn dadurch kann man mit der Weltlichkeit zu tun haben und besitzt die Möglichkeit, die Elemente der Weltlichkeit zu heiligen, indem man sie in dem Dienst an G-tt miteinbezieht.
Gelübde und Galut
Unser Wochenabschnitt wird in der „Zeit der Bedrängnis“5 rezitiert, in welcher wir um die zerstörten Jerusalemer Tempel trauern. Es gibt einen Zusammenhang zwischen ihnen: So wie der Sinn der Gelübde darin liegt, den Menschen innerlich zu stärken und auf ein höheres Niveau zu bringen, indem er sich durch Gelübde einschränkt, ist der alleinige Zweck der „Zeit der Bedrängnis“ das Erreichen der Freiheit zur vollkommenen Erlösung. Jede Bedrängnis erweckt im Menschen innere Kräfte, um damit fertig zu werden und erhebt ihn so auf ein höheres Niveau. So handelt es sich auch mit der Bedrängnis durch die Galut. Und das ist der Sinn der Galut. Die Enge ist für die Weite; der Abstieg ist für den Aufstieg; die Galut ist für die Erlösung!
(Likutej Sichot, Band 33, Seite 194)
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