Diese Woche schließen wir bei der Toralesung das Buch „Bamidbar" („In der Wüste") ab. Am Ende all der Erzählungen über die Wüstenwanderung erfolgt nun eine Zusammenfassung dieser Reisen. So heißt es am Beginn von Kapitel 33: „Dies sind die Reisen der Kinder Israels, die hinauszogen aus dem Land Ägypten, ..." Danach werden alle 42 Stationen der Wüstenwanderung aufgelistet.
Wie oft kann man Ägypten verlassen?
Auch wenn klar ist, dass so ein Rückblick an dieser Stelle Sinn ergibt, drängt sich doch eine Frage auf: Der Satz „die Reisen der Kinder Israels, die hinauszogen aus dem Land Ägypten" erweckt den Eindruck, als wären alle diese Reisen ein „Hinausziehen aus Ägypten” gewesen. Aber so war es doch nicht - nach dem ersten Teilstück hatte man Ägypten schließlich bereits verlassen! Gewiss kamen danach weitere Stationen, doch diese Wege fanden schon woanders statt und waren kein Auszug aus Ägypten mehr! Was bedeutet also diese Formulierung, die suggeriert, das jüdische Volk hätte bei jeder dieser Reise Ägypten verlassen?
Wir können die Antwort besser verstehen, wenn wir bedenken, dass die Reisen hier nicht nur im geographischen Sinn zu verstehen sind. Es waren auch spirituelle Reisen. Jede Station war ein Schritt der geistigen Weiterentwikklung, nach der man sich freier fühlte. Im Vergleich zum neu erreichten Stadium war die Stufe davor jeweils beengtes, bedrückendes Terrain. So gesehen führte jede Reise aus einer Art „Ägypten" heraus - einem Land, in dem man sich beengt und unfrei fühlte.
... als sei er heute aus Ägypten ausgezogen
Da die Tora zeitlose Gültigkeit hat, und nicht nur eine Sammlung historischer Erzählungen ist, stellt sich die Frage: Was ist in diesem Fall die aktuelle Botschaft der Tora für mich? Ganz besonders gilt das, wenn wir vom Auszug aus Ägypten sprechen, von dem es heißt: „Der Mensch ist jeden Tag verpflichtet, sich selbst zu betrachten, als sei er heute aus Ägypten ausgezogen.”
Wir alle erleben in verschiedenen Stadien unseres Lebens mancherlei Arten von spirituellem „Ägypten", durch das wir durch müssen. Haben wir ein solches Stadium überwunden, uns also ein Stück weiterentwickelt, ist bald auch das neue Niveau nicht mehr gut genug. Und wir müssen eine weitere Reise tätigen, um uns aus den Engen des neuen „Ägyptens" zu befreien.
Tipps und Tricks vom biblischen Exodus
Die Reisen der Kinder Israels heraus aus Ägypten können uns dabei vor zweierlei Fehlern warnen:
Der erste Fehler ist die Vorstellung, wir seien schon am Ziel angekommen. Jemand kann glauben, er oder sie habe sich schon so weit ein religiöses Leben angeeignet, es gäbe gar nichts mehr zu verbessern. Doch in Wahrheit ist es nicht unsere Aufgabe, still zu stehen. Es liegt immer eine neue Reise vor uns.
Der zweite mögliche Fehler wäre der, zu verzweifeln. Jemand kann meinen, er oder sie könne und wisse so wenig, - was habe es da überhaupt für einen Sinn sich zu bemühen?
In diesem Fall müssen wir wissen, dass auch eine einzelne kleine Reise bereits die Qualität des „Auszugs aus Ägypten" hat. Den nächsten Schritt zu tun, lohnt sich also in jedem Fall, wo immer man auch derzeit steht.
Abgesehen von einer solchen persönlichen Verzweiflung, gibt es auch die Möglichkeit einer sozusagen „historischen Verzweiflung". Manche meinen, die Welt schaue heute gar nicht danach aus, dass die Zeit des Messias - das endgültige Ziel all dieser Reisen - nahe wäre. Wozu solle man sich da überhaupt bemühen?
Das Ziel ist das Ziel
Auch diese Annahme ist ein Fehler: Das jüdische Volk war im Laufe seines Aufenthalts in Ägypten sehr tief gesunken, und doch hatte es letztlich, nach den erwähnten 42 Stationen, sein Reiseziel - das Land Israel - erreicht. Und heute haben wir schon eine so lange historische „Reise" hinter uns, dass wir tatsächlich recht nahe am Ziel sind.
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