Wenn uns jemand einreden wollte, die Tora sei veraltet, wäre diese Parascha ein geeigneter Beweis. Levitikus Kapitel 2 enthält die biblischen Gebote zur Unmoral. Unser Moralkodex, verbotene Beziehungen, wer wen heiraten darf – das alles steht in diesem Wochenabschnitt.

Wir lesen dieses Kapitel jedes Jahr am Nachmittag von Jom Kippur. Und jedes Jahr stellt in jeder Synagoge jemand die gleiche Frage: „Warum an Jom Kippur, Rabbi? Hätte man nicht einen Abschnitt auswählen können, der nicht von Unmoral handelt? Müssen wir wirklich am heiligsten Tag des Jahres so etwas lesen?

Eine berechtigte Frage. Also erklärt der Rabbiner, dass es hier um die wichtigste Prüfung unserer Heiligkeit geht, um den schwierigsten Bereich des menschlichen Verhaltens und um die Moral. Nicht unser Verhalten in der Synagoge wird geprüft, sondern unser Verhalten im Schlafzimmer. Es ist viel einfacher, sich in der Öffentlichkeit angemessen zu verhalten, als im Intimleben moralisch zu sein.

Ist das altmodisch? Natürlich! In einer Welt, in der Moral relativ ist und sich ständig ändert, in der „Homo-Ehen“ legal und verhungernde Menschen alltäglich sind, kommt die Tora manchen von uns veraltet vor.

Menschen erlassen ständig neue Gesetze, um sich veränderten Umständen anzupassen. Wenn eine neue Autobahn eingeweiht wird, verzichten die Behörden vielleicht auf ein Tempolimit, während sie bei Ölknappheit sogar einen „autofreien Sonntag“ anordnen. Menschliche Gesetze müssen sich der Realität anpassen, und diese ändert sich unaufhörlich. G-ttes Gesetze sind dagegen unabänderlich und ewig, denn sie betreffen die Moral. Werte, Ethik, Recht und Unrecht: das sind Probleme jedes Zeitalters, und die Menschen schlagen sich seit Jahrtausenden damit herum. Von den Höhlenmenschen über den Hunnenkönig Atilla bis zu den atomaren Supermächten – die wesentlichen Fragen haben sich kaum geändert. Die Frage nach der Moral, nach Gut und Böse wird seit Anbeginn der Welt gestellt, und jede Generation muss sie beantworten. Diese Frage ist zeitlos.

Wir lesen, dass Ehebruch und Inzest zur Zeit Mosches verboten waren. Das gilt heute noch. Aber es wäre keine große Überraschung, wenn dieselben Leute, die heute „sexuelle Freiheit“ fordern, demnächst auch für „freien Inzest“ eintreten würden – denn warum sollen Erwachsene nicht tun, was sie wollen, selbst wenn es Geschwister sind? Bei diesen schlüpfrigen Gedanken ist nichts mehr unmöglich.

Doch über Moral kann man nicht abstimmen. Wir brauchen unbedingt eine höhere Instanz, die uns in den oft verwirrenden Dilemmas des Lebens hilft. In Ägypten und Kanaan war unmoralisches Verhalten erlaubt und sogar verbreitet. Im neuen Wochenabschnitt teilt G-tt seinem Volk mit, dass er von ihm etwas anderes erwartet. Wir werden aufgefordert, ein heiliges Volk zu sein, moralischer als die anderen Nationen. Es ist gleichgültig, was in Ägypten, Kanaan, Amerika oder Skandinavien erlaubt ist. Wir haben unseren eigenen Moralkodex und unser eigenes Gesetzbuch, das auch im neuen Jahrtausend nicht umgeschrieben werden muss. Denn Recht ist Recht, und Unrecht ist Unrecht, und so wird es immer sein.

Ein weiser Rabbiner schrieb einmal, dass wir „normal“ nicht mit „durchschnittlich“ verwechseln dürfen. Es gibt Menschen, die bei einem Unfall ein Bein verloren haben; darum hat der „Durchschnittsmensch“ möglicherweise 1,97 Beine. Aber das ist durchaus nicht „normal“. Ein normaler Mensch hat zwei Beine. Wenn die Tora uns lehrt, heilig zu sein, ermahnt sie uns, normal zu sein, aber nicht durchschnittlich. Bleiben Sie also normal, und bewahren Sie Ihre jüdische Einzigartigkeit. Das ist nicht immer leicht. Aber als Jude sind Sie den ewigen Wahrheiten des Lebens treu. Und langfristig werden Sie immer Recht behalten.