Die Beerdigung war im Gange, und der Rabbiner sprach ausführlich über die Tugenden des Verstorbenen: „Was für ein ehrlicher Mann, liebevoller Ehemann und gütiger Vater! Großzügig, freundlich ...“

Die Witwe flüsterte einem ihrer Kinder zu: „Geh mal rüber und schau in den Sarg. Liegt dort wirklich dein Vater?“


Über die Toten gibt es anscheinend viel Gutes zu sagen, über ihre Leistungen und guten Taten, ihre Klugheit, Großzügigkeit und bedingungslose Liebe.

Zu Lebzeiten eines Menschen verlieren wir uns in DetailsAber war der Verstorbene denn kein Mensch wie alle anderen, der angesichts vieler Herausforderungen auch Fehler machte? Glauben wir wirklich, dass er gestern vollkommen war? Was ist mit seinen Schwächen und schlechten Gewohnheiten, seinem Ego und seinen Begierden? Hat er nie die Beherrschung verloren?

Davon hören wir kein Wort.

Deshalb könnten wir fragen: Ist dieser Mensch ein Engel geworden, als er diese materielle Welt verließ?

Es gibt einen bekannten Scherz über die Reihenfolge der Wochenabschnitte, die wir derzeit lesen: Acharej („Nach dem Tod“), Kedoschim („Heilige“) und Emor („Sag“). Wenn wir diese Worte als Satz lesen, bedeutet er ungefähr: „Sag nach dem Tod, er war heilig.“

Halten wir den Mund, weil wir uns vor dem Geist des Verstorbenen fürchten, weil er uns womöglich mitten in der Nacht heimsucht und mit brennenden Stöcken schlägt?

Das glaube ich nicht. Nicht der Verstorbene ändert sich, sondern wir ändern uns.

Zu Lebzeiten eines Menschen verlieren wir uns in Details. Aber wenn der Tod kommt, haben wir die Chance, mit größter Klarheit das Kaleidoskop, das größere Bild zu studieren. Und dann entdecken wir – ein wenig zu spät – die Vorzüge des Toten.

Also stellt sich die Frage, ob Menschen erst sterben müssen, damit wir sie zu schätzen wissen. Müssen wir, G-tt verhüte es, jemanden erst verlieren, ehe wir ihn wirklich finden können? Gibt es den „geliebten Mann, Vater und Bruder“ nur als Nachruf, oder können wir einen Menschen schon zu seinen Lebzeiten loben?

Wir sollten uns mit einem Angehörigen versöhnen, solange er noch lebt, nicht mit seinem Grabstein.

Wir sollten Menschen vergeben, nicht Geistern, und das Gute in Ihnen jetzt sehen.