Es gibt keine Worte, um den Schrecken zu beschreiben, den der Tsunami im Jahr 2004 auslöste. Und wie schnell schlug das Schicksal zu! In diesem Moment gingen die Menschen noch ihren alltäglichen Verrichtungen nach, und im nächsten waren sie ertrunken. Über 150.000 Menschen verloren bei dieser außergewöhnlichen Tragödie ihr Leben. Und wir alle haben eine Frage auf den Lippen: Warum? Warum mussten unschuldige Menschen, unter ihnen rund 50.000 Kinder, einen so schrecklichen Tod sterben? Für uns, die wir an G–tt glauben, lautet die Frage: Warum hat Er das getan? Viele religiöse Menschen haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich solche Fragen stellen. Aber es ist nicht nur erlaubt, nach dem Warum zu fragen, sondern es ist eine der besten jüdischen Traditionen. Erst am vergangenen Schabbat haben wir von einem Gespräch zwischen Mosche und G–tt gelesen.

G–tt schickte Mosche zum Pharao, um ihn aufzufordern, die Kinder Israel frei zu lassen. Doch anstatt nachzugeben, erhöhte der König die ohnehin zu hohe Arbeitsbelastung der Juden noch mehr. Deshalb stellte ihm Mosche die quälende Frage: „Warum hast du deinem Volk das angetan?“ Und er war enttäuscht, weil G–tt der Frage scheinbar auswich und nur antwortete: „Du wirst sehen, was ich dem Pharao antun werde, denn er wird sie mit starker Hand aussenden und mit starker Hand aus seinem Land treiben“ (Exodus 5:22-6:1). Was ist das für eine Antwort? Mosches Frage wird nicht beantwortet. Gewiss hätte G–tt dafür sorgen können, dass der Pharao die Juden freiließ, ohne ihnen weiteres Leid zuzufügen. Warum beantwortete G–tt Mosches Frage nicht?

Im Talmud lesen wir, dass Mosche noch bei einer anderen Gelegenheit „Warum?“ fragte, und auch damals gab G–tt keine Antwort. Als Mosche wieder einmal in den Himmel entrückt wurde, zeigte G–tt ihm Rabbi Akiwa, den großen Talmud-Gelehrten, der die Gebote der Tora in allen Einzelheiten erklärte. Mosche wandte sich an G–tt und sagte: „Du hast mir seine Tora gezeigt, nun zeige mir seinen Lohn.“ Daraufhin zeigte G–tt ihm, wie die Römer Rabbi Akiwa grausam ermordeten. Entsetzt fragte Mosche: „Das ist die Tora, und das ist der Lohn?“ „Schweig“, entgegnet G–tt mit Donnerstimme. „Das sind meine Gedanken!“

G–tt scheint hier ganz unvernünftig zu sein. Mosche stellt eine völlig berechtigte Frage, aber G–tt befiehlt ihm, still zu sein. Doch wenn wir unter die Oberfläche blicken, finden wir einen tiefgründigen Gedanken. Als G–tt nach dem Warum gefragt wurde, gab er keine direkte Antwort. Aber wenn er uns leiden lässt, sollte er uns dann nicht einen guten Grund dafür nennen, damit wir nicht noch mehr leiden? Wenn wir leiden, sind wir nicht objektiv, und wenn wir große Schmerzen haben, ist uns kein Grund gut genug. Der Leidende will wissen, warum er leidet; aber tief im Inneren ist er mit keiner Antwort zufrieden.

Mosche, der liebevolle Hirte des jüdischen Volkes, wollte wissen, warum G–tt sein Volk leiden ließ. Er war sogar empört über G–tt. Wer würde einer Mutter Vorwürfe machen, wenn sie ein leidendes Kind beweint? Und welcher Vater würde irgendeinen Grund für das Leiden seines Kindes akzeptieren? Es ist falsch, menschliches Leid zu rechtfertigen. Keine Begründung der Welt kann die Mütter in Asien trösten, deren Kinder in der Flut ertranken. Jede Antwort, die G–tt geben könnte, wäre unzureichend – wir sind einfach nicht objektiv genug, um sie zu akzeptieren. Ironischerweise ist die Antwort, die G–tt dem Mosche gab - „Schweige, ich weiß es am besten“ -, in dieser Situation am treffendsten. Es ist wie bei einem Kind, dem die Mutter eine bittere Medizin gibt. Das Kind mag die Arznei nicht, aber es vertraut darauf, dass es einen guten Grund dafür gibt, und darum erduldet es den bitteren Geschmack.

Es ist tröstlich zu wissen, dass es für unser Leid einen guten Grund gibt, den wir momentan nicht verstehen, den aber eine vertrauenswürdige Macht versteht, die unendlich größer ist als wir. Wir dürfen wenigstens sicher sein, dass wir nicht sinnlos leiden und sterben. Es ist also paradox: Wenn wir „Warum?“ fragen, lassen wir uns von der Antwort trösten, die G–tt uns nicht gibt.