Nachdem Josef sich seinen Brüdern offenbart hatte, brachte er seine Familie nach Ägypten, wo er sie für die nächsten fünf Hungersjahre ernährte. Diese Wohltat Josefs ist von so großer Bedeutung, da ihretwegen das ganze jüdische Volk den Namen „Josef“ trägt, wie es heißt: Er lenkt wie eine Herde Josef1 (in der Bedeutung, dass G-tt das jüdische Volk, welches „Josef“ genannt wird, wie eine Herde führt).

Die jüdische Mystik lehrt, dass der Name einer Sache ihr wahres Wesen ausdrückt. Die Tatsache, dass Josef seine Familie ernährt hatte, ist doch nur ein kurzer, nebensächlicher Abschnitt in der Geschichte Israels. Wie groß auch die Wohltat Josefs war, wie hängt sie aber mit dem wahren Wesen des jüdischen Volkes zusammen, so dass ganz Israel nach Josef benannt wird?

Eine besondere Fähigkeit

Nicht nur die Gebote der Thora haben ständige Gültigkeit, sondern selbst ihre Geschichten tragen aktuelle Ewigkeitswerte mit sich. Vor über 3.500 Jahren ernährte Josef seine Familie in Ägypten, und auch heute, sowie in jeder Generation, „ernährt Josef“ das jüdische Volk, indem er jedem Juden Kraft verleiht auf seinen Wegen zu wandeln.

Die besondere Fähigkeit, die uns Josef weitergibt, ist seinem Nächsten mit Güte zu begegnen2, auch wenn jener das Gegenteil getan hat. So verhielt sich Josef zu seinen Brüdern. Sie taten ihm Böses, doch er ernährte sie und ließ ihre Taten ungeschehen scheinen. Diese besondere Fähigkeit – nicht nur zu vergeben, sondern sogar mit Gutem zu vergelten – vererbte Josef jedem Juden.

„Zahn um Zahn“-Philosophie?

Die Eigenschaft Schlechtes mit Gutem zu vergelten ist unentbehrlicher Teil der jüdischen Identität, und da Josef uns diese Fähigkeit verleiht, trägt das gesamte Volk Israel den Namen „Josef“.

„Gutes für Böses“ – ehrlich gesagt könnte man sich über ein solches Verhalten wundern. Der Nächste hat doch Böses im Sinne und führt es auch aus. Warum es ihm nicht heimzahlen nach der These „Zahn um Zahn“? Außerdem ist das doch auch die wirksamste Erziehungsmethode, so die Befürworter der „Zahn um Zahn“-Philosophie. Was lehrt uns die Thora aber: nicht nur keinen „Rachefeldzug“ auszuüben, sondern es sogar mit Gutem „heimzuzahlen“. Das Judentum verbietet jegliche Art von Rache. Der Mensch hat kein Recht sich selbst zum „Richter“ zu erwählen.

Eine derartige Bezugnahme zu unserem jüdischen Mitmenschen hängt ebenfalls mit der jüdischen Identität zusammen. Der Jude, wie er äußerlich in Erscheinung tritt, präsentiert nicht immer sein wahres Wesen. Sein Auftritt kann durchaus schlecht sein, doch an uns liegt es in sein inneres Wesen zu blicken. Jeder Jude trägt eine g-ttliche Seele in sich, die vollkommen gut ist, doch leider oft nicht zum Vorschein kommt. „Josef“ gibt uns die Kraft uns um einen tieferen Einblick zu bemühen und in unserem Nächsten das Ebenbild G-ttes zu erkennen!

„Tat um Tat“

Ein solches Denken und Agieren im Umgang mit dem Nächsten weckt auch in diesem seine gute Seite, was sich schließlich auch auf seine Taten auswirken wird; das ist die effektivste Erziehungsmethode – durch sein Verhalten ein Vorbild zu sein. Wenn der Betroffene sieht, dass man, anstatt es ihm im gleichen Maße heimzuzahlen, ihm mit Güte und Liebe entgegenkommt, so wie einem echten Freund, „seinem Nächsten“, wird ihn das so sehr berühren, dass das kalte Eis, das sein sanftes Herz einfror, allmählich schmilzt und sein gutes Ich zum Vorschein kommt.

Wenn wir uns diese Eigenschaft aneignen – und die Kraft dazu haben wir schon – in unserem Nächsten das Gute zu sehen – und es stimmt, manchmal muss man gründlich suchen – gebührt es uns an G-tt folgende Worte zu richten (wie der Midrasch sagt3): „So wie Josef seinen Brüdern Gutes getan hatte, obwohl sie Böses für ihn wollten, so tue auch Du uns Gutes, obwohl wir Dir Böses getan haben“. Und G-tt vergilt es uns tatsächlich mit Gutem und beschenkt uns mit dem größten Glück – der vollkommenen Erlösung, sofort in unseren Tagen!

(Likutej Sichot, Band 5, Seite 239)