Die Tora sagt: "Kränke keinen Juden und fürchte G-tt."1 Unsere Weisen erklären,2 dass dieser Vers sich auf das Sagen verletzender Worte und das Geben unangemessener (schädlicher) Ratschläge bezieht. Die Tora wählt den Satz "du sollst G-tt fürchten" in diesem Kontext, da oft derjenige, der schlechte Ratschläge gibt, die zu seinem eigenen Vorteil sind, behaupten könnte, dass er das aus reinem Versehen tat. Der Vers betont daher, dass G-tt seine wahren Absichten kennt.

Beispiele:

  • Wer um einen Rat gebeten wird, muss auf eine Weise beraten, die hilfreich ist. Berät er den andern vorsätzlich auf kontraproduktive Weise, verstößt er gegen diese Mizwa.3
  • Es ist verboten, einenBaal Tschuwa (der auf den rechten Weg Zurückgekehrte) an seinen früheren, unmoralischen Lebenswandel zu erinnern.4
  • Es ist verboten, das Kind eines Konvertierten an die negativen Aktivitäten zu erinnern, in die seine Eltern verwickelt waren.
  • Wer seinen Freund sich mit schwierigen Zeiten herumschlagen sieht, darf nicht sagen, dass ihm das "recht geschieht" und dass es sich hier wohl um eine Busse für seine Sünden handelt.5
  • Wer eine abfällige Bemerkung macht, wird als sündhaft betrachtet, auch wenn der Inhalt der Bemerkung nicht unbedingt negativ ist. Der Talmud verzeichnet6:
    Nach dem Yom Kippur begleitete eine Gruppe den Kohen Gadol (Hohepriester) nach Hause. Als sie jedoch die führenden Rabbiner jener Zeit, Schmaya und Avtalion, sahen, ließen sie den Hohepriester stehen und begleiteten stattdessen die großen Tora-Gelehrten. Schmaya und Avtalion begrüßten später den Hohepriester und sagten: "Möge der Nachkomme Aharons (Hohepriester) in Frieden kommen!" Er antwortete mit den Worten: "Mögen die Kinder der Nationen (Heiden) in Frieden kommen!" Damit spielte der Kohen Gadol auf die Tatsache an, dass Schmaya und Avtalion die Nachkommen von konvertierten Familien waren.7 In diesem Wortwechsel ist der Kommentar des Kohen Gadol als abwertend zu verstehen und wurde als Sünde betrachtet, obwohl es eine sehr lobenswerte Tat ist, zum Judentum überzutreten und auf eigene Initiative unter die Flügel der G-ttlichen Gegenwart zu kommen.8

Zutreffend für wen?

Wir sollen uns dem Konvertierten gegenüber besonders liebevoll zeigen, sowie das G-tt tutObwohl das Verbot, verletzende Worte zu sagen, sich auf alle Juden bezieht,9 gibt es bestimmte Menschen, denen gegenüber wir besonders vorsichtig sein müssen, um sie nicht zu beschämen oder zu verletzen:

  • Konvertierte: Die Tora wiederholt zweimal das Verbot, einen Konvertierten zu verletzen.10 Nachdem sie sich von ihrer Familie trennten und zu Neuankömmlingen in der Gemeinde wurden, sind die Konvertierten schon aus dieser Situation besonders empfindlich und sollten mit größerer Vorsicht behandelt werden. Da wir Juden die Schwierigkeiten des Fremdseins in einem fremden Land (Ägypten) am eigenen Leib erfahren haben, sollten wir mit den Menschen bei ähnlichen Schwierigkeiten sympathisieren. Wir sollten den Konvertierten besondere Zuwendung zeigen, so wie das G-tt selber auch tut.11
  • Ehefrau: Frauen sind empfindlicher als Männer, so dass bereits ein hartes Wort sie zutiefst verletzen kann. Unsere Weisen sagen: Seine Frau zu ehren, wird mit Reichtum belohnt.12
  • Waisen und Witwen: Infolge der Tragödie, die sie heimgesucht hat, sind Witwen und Waisen besonders niedergeschlagen. Wir sollen daher in milden Tönen und sehr respektvoll mit ihnen reden. Wenn sie sich an G-tt wenden und Ihn bitten, ihre Wunden zu rächen (G-tt behüte), beantwortet Er ihre Gebete.13 Der Lehrer darf einen Schüler, der Waise ist, zurechtzuweisen, doch sollte er das mit großem Mitgefühl tun.
    Ein Mensch gilt als Waise bis er ein Alter erreicht, in dem er imstande ist, auf eigenen Füssen zu stehen und keinen für ihn sorgenden Vormund mehr braucht.14
    Wir sollen mit dem Geld eines Waisen vorsichtiger als mit eigenem Geld umgehen. In finanziellen Angelegenheiten der Witwen und Waisen soll besonders darauf geachtet werden, sich nicht zu ihren Ungunsten zu verrechnen.

Öffentliches Bloßstellen

Wir sollen darauf achten, niemals einen Mitmenschen öffentlich bloßzustellen. Diese Sünde gleicht dem Mord: Genauso wie beim Mord Blut vergossen wird, fließt das Blut des vor anderen beschämten Menschen aus seinem Gesicht. Außerdem verliert derjenige, der seinen Mitmenschen bloßstellt, seinen Anteil an der kommenden Welt. Der Talmud sagt, dass diese Sünde schlimmer ist, als das Ehebrechen mit einer zweifelhaft verheirateten Frau.15 Und unsere Weisen sagen bereits was Laschon Hara (üble Nachrede) betrifft, dass es mit allen drei Todsünden (Blutvergießen, Ehebrechen, Götzendienst) gleichzusetzen ist.16

Wer seinen Mitmenschen öffentlich bloßstellt, verliert seinen Anteil an der kommenden WeltDer Talmud lehrt17 in der Geschichte von Jehuda und Tamar, dass es besser sei, in einen feurigen Ofen geworfen zu werden, als einen anderen Menschen öffentlich zu beschämen.18 Als Belohnung für ihre Bemühung, Jehuda nicht bloßzustellen, – nahezu bis zur Bereitschaft, ihr Leben dafür zu opfern, – verdiente Tamar Nachkommen, die zu Königen und Propheten wurden.

Mar Ukva, ein Weiser des Talmuds, versteckte sich in einem feurigen Ofen, um einem Armen die Scham zu ersparen, seinen geheimen Wohltäter kennenzulernen. Mar Ukva überlebte, doch seine Füße wurden dabei verbrannt. Von diesem Tag an wurde er "Mar Ukva mit den verbrannten Füssen" genannt. Seine Frau, die sich damals mit ihm zusammen versteckt hatte, erlitt durch ein Wunder keinerlei Verbrennungen. Sie verdiente dieses Wunder, weil sie die armen Leute direkt ernährte und ihnen das Essen servierte, während Mar Ukva sie lediglich finanziell unterstützte (Ketuvot 67b).