Lieber Leser,
dieser Wochenabschnitt enthält das Gebot, das große Berühmtheit erlangt hat: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" (Lev. 19, 18). Für den modernen Menschen hört sich diese Ermahnung manchmal nur wie ein frommer Wunsch an, ohne tiefere Bindung an die Realität des Lebens. Er denkt: "Wie kann erwartet werden, dass man eine Person trotz ihrer augenfälligen Unzulänglichkeiten wirklich liebt?"
Ein Heide kam einst zu dem berühmten Hillel mit dem Ersuchen, ins Judentum aufgenommen zu werden (Schabbat 31a). "Lehr mich die Tora, während ich auf einem Fuße stehe." verlangte er. Der weise Hillel erwiderte: "Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg' auch keinem andern zu. Dies ist die ganze Tora, alles übrige ist Kommentar. Jetzt geh' hin und lerne!"
Hillel zog es vor, die Vorschrift der brüderlichen Liebe in negativer Form auszudrücken: "Tue nicht anderen an, was dir selbst verhasst ist." Weshalb lehrte er ihn nicht dieses Gebot in der einfachen, positiven Form, wie es in der Tora steht: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst"?
Die Antwort darauf ist, dass Hillel, in seiner großen Weisheit, dieses Gebot in einer Weise auszudrücken für richtig hielt, wodurch die Vorschrift gleichzeitig erläutert und klar gemacht wird:
Es ist eine bekannte Tatsache, dass Liebe "blind" ist, und die blindeste aller Lieben ist die Selbstliebe. Jeder kennt genau die Fehler seines eigenen Charakters. Er weiß von seinen eigenen Unzulänglichkeiten mehr als jeder Außenstehende. Doch so stark ist seine Selbstliebe, dass sie diese Selbsterkenntnis erstickt; sie bringt ihn davon ab, seine Charakterfehler einzusehen, und er findet Entschuldigungen für all seine schlechten Taten.
Lasst uns nun eine ehrliche Selbstuntersuchung vornehmen und unsere Reaktion analysieren, wenn ein anderer unsere Fehler bemerkt und sie uns vor Augen hält.
Schabbat Schalom