Sinn und Bedeutung der augenblicklichen Zeitspanne des "Omerzählens" lassen sich durch die folgenden Überlegungen erhellen:
Pessach ist bekanntlich das Fest, an dem wir die Befreiung aus Ägypten feiern, am Schawuot-Feste gedenken wir der Entgegennahme der Tora am Berge Sinai. Zwischen diesen beiden Festen liegen 49 Tage; und diese entsprechen den sieben Wochen, die es dauerte, bis die Israeliten Ägypten verlassen hatten, den Sinai erreichten und sich auf die Verkündung der Tora vorbereiten konnten. Während dieser Zeitspanne nun zählen wir die Tage – ganz analog der Handlungsweise der Israeliten damals, die (wie die Tradition uns berichtet) in ungeduldiger Erwartung der Offenbang der Tora jeden Tag zählten.
Für sie war, immerhin, eine gewisse Vorbereitungszeit unerlässlich; denn unmittelbar vor ihrem Auszuge aus Ägypten befanden sie sich in einem Zustand von sklavischer Unterdrückung, der in seiner erniedrigenden Form seinesgleichen suchte. Jeder, der mit den Zuständen im alten Ägypten einigermaßen vertraut ist, kann bestätigen, wie sittlich verderbt die ganze Lebensweise der Bewohner dieses Landes in jenen Tagen war. Gegen den verheerenden Einfluss einer solchen Umgebung war der Charakter der unterdrückten Hebräer nicht immer immun geblieben. Nichtsdestoweniger waren diese vorherigen Sklaven im Verlaufe von nur 50 Tagen in der Lage, das höchstmögliche Niveau von Vergeistigung zu erreichen, so dass sie würdig befunden wurden, bei G-ttes Enthüllung am Berge Sinai persönlich zugegen zu sein.
Die geistige Freiheit, welche die Tora ihnen brachte (und deren Glanz sich dann auch auf die ganze Welt ausgewirkt hat), ging Hand in Hand mit materieller Freiheit, das heißt, mit der Lösung aller materieller Probleme. Die Tora lehrt, dass den Israeliten ihr täglicher Lebensunterhalt gesichert war, in der Form des Mannas, das täglich vom Himmel fiel. Begleitet wurden sie von Miriams Quelle, die sie mit Wasser versorgte, wohin immer sie zogen. Die Feuersäule zog ihnen voran bei Nacht und vernichtete die giftigen Schlangen und Skorpione der Wüste, während die Wolkensäule sie bei Tag umhüllte und ihre Kleidung in Ordnung und sauber erhielt. Kurzum, auch auf materieller Ebene wurden alle ihre Bedürfnisse erfüllt.
Nun wird manchmal die Frage erhoben, wieso es uns Heutige viele Jahre von Lernen, Gebet und Selbstdisziplin kostet, damit wir auch nur einen relativ kleinen Anstieg in spiritueller Hinsicht verzeichnen können, während es unseren Vorfahren gelang, so unvergleichlich mehr in bloßen 49 Tagen zu erzielen. Dazu ist zu sagen, dass die in der Tora enthaltenen wesentlichen Lehren und Anweisungen uns Auskunft darüber geben, wie die Situation unter gewissen vorherrschenden Umständen zu einem zukünftigen Zeitpunkt sein kann. Diese wäre dann die Antwort auf die genannte Frage, wie folgt:
Ganz bestimmt würde es auch für die Juden unserer Tage möglich sein, einen so großen und schnellen "Aufstieg" zu machen wie derjenige der Israeliten von Ägypten bis zum Sinai. Aber: Die Bedingungen müssten ähnlich denen sein, welche damals ausschlaggebend waren. Hervorstehend waren dabei jedenfalls diese Merkmale: Sie zogen aus Ägypten in absolutem Vertrauen auf G-tt, dessen Ruf in die Wüste sie gehorchten; sie gaben die "Fleischtöpfe" Ägyptens auf, das "Fett des Landes"; sie nahmen nicht einmal einen Vorrat von Lebensmitteln mit sondern verließen sich auch in dieser Beziehung völlig auf G-tt. Es war daher in einem Zustand bedingungsloser Hingabe, dass sie hinter der Wolkensäule und der Feuersäule herzogen.
Würde je unsere eigene Haltung dem entsprechen, oder sich ihm auch nur einigermaßen annähern, dann dürften wir sehr wahrscheinlich ebenfalls eine radikale Änderung zum Besseren erwarten, und zwar nicht im Verlaufe von Jahren, sondern in einem Zeitraum von Tagen.
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