Diesen Brief erhielt die Redaktion der Jewish Press in New York vor einigen Jahren.
Ich habe voller Freude Ihren Artikel über Rabbi Josef Jizchak Schneersohn gelesen. Ich hatte das große Glück, selbst erleben zu dürfen, mit welch erstaunlicher Hingabe der Rabbi Juden half, die Mizwot wieder einzuhalten.
Selbst heute noch, viele Jahre später und trotz meiner Altersanämie, erröte ich, wenn ich daran denke, mit welcher Chuzpe sechs meiner Freunde und ich gegenüber Rabbi Schneersohn auftraten und wie er uns sanft bekehrte.
Es war 1929, eine schöne Zeit – und wir wussten nicht, was uns bevorstand. Damals erschienen in jüdischen Zeitungen in Philadelphia mehrere Artikel über Rabbi Schneersohn, den Lubawitscher Rebbe, dem Frau Faggen-Miller, eine bekannte Wohltäterin, ein Haus in der 33. Straße überlassen hatte. Die Artikel zitierten den Rebbe ausführlich.
Meine Freunde und ich lasen sie und fragten uns, ob der Rebbe vorhatte, den Allm-chtigen zu ersetzen. Wir diskutierten darüber mit einem Vertreter unserer Synagoge, und er schlug uns vor, den Rebbe zu besuchen und nach seinen Plänen zu befragen. Also stiegen wir eines Samstagabends ins Auto und fuhren in die 33. Straße. Wir wollten den Rebbe zur Rede stellen und ihm zeigen, dass er sich unserer Meinung nach an die Stelle G-ttes setzte.
Als wir die Stufen zur vorderen Veranda hinaufstiegen, sahen wir durchs Fenster ins Wohnzimmer – es war voller Menschen. Wir klingelten, und ein würdevoller, bärtiger Mann kam an die Tür und fragte nach unserem Begehren.
Einer von uns sagte: „Wir möchten mit dem Rebbe sprechen. Wir haben eine wichtige Frage an ihn.“
Der Mann machte sich Notizen. „Der Rebbe muss die Frage kennen, bevor er Sie empfängt“, sagte er.
„Wir wollen wissen, warum wir in einem modernen Land eine veraltete Religion befolgen sollen.“
„Sie müssen warten“, sagte er. „Wie Sie sehen, sind viele Leute vor Ihnen dran. Aber treten Sie ein.“
Wir sagten, wir würden auf der Veranda warten, weil im überfüllten Wohnzimmer kein Platz mehr sei.
Ein paar Minuten später kam der Mann zurück und sagte, der Rebbe wolle uns sofort sehen. Er führte uns ins Haus, durch die Menge und die Treppe hinauf. Wir wunderten uns. Warum wurden wir vor all den anderen Leuten empfangen? Oben an der Treppe stand der heilige Rabbi. Er war groß und stattlich und hatte strahlende Augen. Er trug eine große Pelzmütze. Die Hand hatte er ausgestreckt, um uns zu begrüßen. Ich war überrascht, denn ich wusste nicht, dass chassidische Juden das tun.
„Dies ist der schönste Augenblick, seit ich in Philadelphia bin“, sagte er und begann, Stühle um seinen Schreibtisch herum zu verteilen. Wir wollten ihm helfen, aber er bestand darauf, diese Arbeit selbst zu erledigen. Als wir saßen, schaute er jeden von uns lange an. Dann begann er zu sprechen.
„Ihr seht aus wie sehr intelligente junge Männer. Darum muss ich auf Augenhöhe mit euch reden. Ihr fragt euch, warum unten so viele Menschen warten. Nun, ich will euch von einigen ihrer Probleme erzählen, die sie veranlassen, mich um Hilfe zu bitten. Die Tochter eines Mannes ist schwer krank. Was kann ich tun? Nicht mehr als er, vorausgesetzt, er betet zu G-tt. Er sollte G-tt um vollständige Genesung bitten. Ein anderer ist in ein Gerichtsverfahren verwickelt und will, dass ich für ihn bete, damit er es gewinnt. Ich weiß nicht, wer recht hat, aber er kann G-tt um Gerechtigkeit bitten. Ein anderer will ein Geschäft kaufen und möchte, dass ich eingreife, damit er Erfolg hat. Wenn ich das könnte, wäre ich ein reicher Geschäftsmann. Aber wenn ich eure Frage nicht beantworten könnte, hätte ich kein Recht, Rabbiner zu sein. Zuerst muss ich euch ein großes Geheimnis anvertrauen, das ihr höchstwahrscheinlich bewahren werdet. Es gibt 613 Mizwot, und obwohl der Lubawitscher Rebbe versucht, sie alle einzuhalten, schafft er es nicht. Was also tut er? 613 Mizwot verwerfen? Nein, er hält so viele Mizwot ein, wie es menschenmöglich ist.“
Mit diesen wenigen Worten entfernte er das Gift, das wir mitgebracht hatten. Er bat uns, ebenfalls so viele Mizwot zu befolgen, wie wir konnten. Dann würden wir das Gleiche tun wie der Lubawitscher Rebbe! Er fragte uns nach unseren jüdischen Namen und nach den Namen unserer Mütter. Wir nannten auch unsere offiziellen Namen und Anschriften, aber er sagte, die brauche er nicht.
Mehrere von uns steckten die Hände in die Taschen; aber er hielt sie mit einer Geste auf, dankte uns und sagte, er brauche auch kein Geld. Er brauche Mizwot. Er fragte, ob wir jeden Tag Tefillin anlegten. Einige gaben zu, dass sie diesen Brauch aufgegeben hatten. Er bot ihnen sogar Tefillin an, damit sie die Mizwa erfüllen konnten.
Alle von uns versprachen, seine Anregungen nach besten Kräften zu befolgen. Dann segnete er uns einzeln und schüttelte uns die Hände. Wir gingen. Fast zwei Stunden lang standen wir noch auf der Veranda, um den Besuch zu verdauen. Alle waren sich einig, mindestens einmal am Tag zu beten.
Einer sagte, er werde samstags nicht mehr als Zahntechniker arbeiten, und einige Monate später überredete er sogar seinen Arbeitgeber, es ihm gleichzutun. Einer von uns, Gabriel Löwenthal seligen Angedenkens, begann in einer Synagoge zu lehren, was der Rebbe ihm beigebracht hatte. Einige Freunde habe ich aus den Augen verloren, aber ich bin sicher, dass die zehn Minuten, die wir beim Rebbe verbrachten, in jedem von uns den jüdischen Geist gestärkt haben.
Wegen der Wirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs hatte ich wenig Hoffnung, von Rabbi Josef Jizchak mehr Erleuchtung zu empfangen. Aber sein Schwiegersohn, der derzeitige Rebbe, inspirierte mich ständig, so viele der 613 Mizwot einzuhalten, wie ich kann.
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