Da das Schawuot-Fest unmittelbar bevorsteht, ist es wieder einmal angebracht, auf die Großartigkeit von Tora hinzuweisen und damit auf die absolute Notwendigkeit, die Tora zu lernen und zu beobachten. Dieses Thema findet seinen Niederschlag gerade auch in dem um heutigen Schabbat zu lesenden sechsten Kapitel von "Pirke Awot" ("Sprüche der Väter"), wo es in Absatz 2 heißt: "Jeden Tag geht eine Himmlische Stimme aus vom Berge Choreb und ruft aus und sagt: Wehe ihnen, den Geschöpfen, ob der Beschämung der Tora, denn wer sich nicht mit der Tora beschäftigt, wird ein 'Zurückgewiesener' genannt." Dieser ernste Ausruf, wie er so in der Seele des Menschen selbst vernommen wird, ergeht mit der Absicht, ihn zum Tora-Studium zu bewegen. Er wendet sich an die "Geschöpfe", womit in erster Linie jene gemeint sind, die scheinbar keine anderen positiven Eigenschaften besitzen, als G-ttes Geschöpfe zu sein.
Dazu ergibt sich diese Frage: Mit den Worten "Wehe ihnen" ist hier in den "Sprüchen der Väter" eine schwere Rüge ausgesprochen. Wäre es nicht viel wirkungsvoller gewesen, wenn die Himmlische Stimme die hohe Bedeutung von Tora und Tora-Studium (in positiver Weise) diesen geringen, unscheinbaren Menschen vorgeführt hätte, statt sie gleich so schwer dafür zu tadeln, dass sie das Lernen versäumt haben?
R. Eleaser ben Schimon sah einmal einen Mann auf der Straße, über den er sogleich ausrief: "Wie hässlich ist doch dieser Mensch!" Der betreffende erwiderte: "Geh hin zu dem Handwerker, der mich gemacht hat, und sage zu Ihm: 'Wie hässlich ist dieses Gefäß, das Du gemacht hast!'"
Wie können wir diese seltsame Geschichte verstehen? Wusste R. Eleaser denn nicht, dass jeder Mensch, wie immer er auch aussieht, von G-tt geschaffen worden ist? Wie war es denkbar, dass er, einer unserer größten Weisen, einen so beleidigenden Ausspruch machen konnte?
Dazu jedoch gibt es eine tiefgründige Erklärung: Was R. Eleasar hauptsachlich störte, das war die geistige, spirituelle Hässlichkeit jenes Mannes; er erkannte, dass ihm sogar die elementarsten Eigenschaften von Menschlichkeit abgingen. Angesichts dessen wäre es für R. Eleasar völlig müßig und eitel gewesen, ihm das Wesen von Güte und Heiligkeit darzulegen; derartige Erklärungen hätten auf den Mann, in seiner Ungeschliffenheit, gar keinen Eindruck gemacht. Stattdessen brachte R. Eleasar den großen Schmerz zum Ausdruck, den er in seinem Herzen spürte, einem solchen Menschen gegenüber: Wie konnte ein solcher überhaupt existieren, wenn er nicht – überhaupt nicht – seine elementarste Aufgabe hier auf der Erde erfüllte?
Indessen drang R. Eleasars ernster Ausruf durch die äußere Schicht von Grobheit in den Menschen ein und berührte eine innere Seite – die tiefere Quelle von Jüdischkeit, die in jedem Juden ruht; so erinnerte sich jener sofort seines Schöpfers und zollte Ihm Anerkennung, indem er sagte: "Geh hin zu dem Handwerker, der mich gemacht hat..."
Tief im Inneren der Erde, tief im Boden verborgen liegen Diamanten. Man muss fleißig graben und die Erde entfernen, um sie freizulegen. Tief in jeder einzelnen Person liegen ungemein wertvolle Schätze, unter Schichten von "Schmutz" und "Erde" versteckt – Grobheit, Charakterschwäche, Gefühllosigkeit und dergleichen mehr. Angesichts dessen ist es müßig, die Überlegenheit von Tora erklären zu wollen; denn jeder Jude ist von Natur aus schon sehr nahe mit Tora und Mizwot verbunden. Vielmehr ist hier Schärfe und Härte am Platze, um seine eigene Härte zum Schmelzen zu bringen, um die Schichten von "Schmutz" zu durchdringen und zum wesentlichen Kern vorzudringen. Da ist die tägliche, ernste Botschaft der Himmlischen Stimme sehr wohl angebracht, wenn sie ihr "Wehe ihnen" ruft; sie ist dann das einzig mögliche Reizmittel und der richtige Antrieb.
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