Die Offenbarung der Tora, die wir am Schawuot feiern, ereignete sich bekanntlich im Siwan, dem dritten Monat im jüdischen Kalender. Dies war G-ttes Absicht, und daher muss eine besondere Erheblichkeit eben darin liegen, dass die Tora im dritten Monat gegeben worden ist. Ausdrücklich weist der Talmud (Schabbat 88a) auf diesen Punkt hin: "Gesegnet sei der Allbarmherzige, der eine dreifache Tora einem dreifachen Volke durch einen Drittgeborenen am dritten Tage des dritten Monates gegeben hat."

Ganz offensichtlich ist die Zahl drei hier von ausschlaggebender Bedeutung. Die Tora besteht aus drei Teilen: Pentateuch, Propheten und Haggiographa. Drei Arten von Juden gibt es in unserer Gemeinschaft: Kohen, Levi und Israel. Moses war das dritte Kind seiner Eltern, nach Miriam und Aaron. Und die Tora wurde, wie schon gesagt, im dritten Monat gegeben, und dabei dann am dritten Tage nach der Absonderung der Israeliten vom Umgang mit ihren Frauen:

Man kann mit einiger Berechtigung fragen, warum die Zahl drei hierbei von so außerordentlicher Wichtigkeit ist. War denn die Tora nicht etwas Einzigartiges, Offenbarung des Einen G-ttes? Da hätte man viel eher eine Betonung der Zahl eins erwartet.

Die Antwort ist diese: In der Tat ist es Zweck und Ziel der Tora, die Einheit zu repräsentieren und zu bekunden. Was aber ist wahre Einheit? Sie stellt sich erst dann in aller Klarheit heraus, wenn man den Einen unter den vielen erkennt, also: wenn man Einheit innerhalb von Mannigfaltigkeit wahrnehmen kann. Sollte jemand nur eine Art von Existenz kennen, dann ist fraglich, was seine Reaktion sein wird, wenn er eine weitere Art entdeckt. Er könnte dann womöglich zu diesem Fehlschluss kommen: Es gibt zwei Realitäten, nämlich G-tt und die Welt. – Erst wenn er tatsächlich mehr als eine Form von Existenz angetroffen und in Erfahrung gebracht hat und dabei doch weiterhin versichert ist, dass G-tt die einzige Realität bildet, erst dann hat er die tatsächliche Einheit und Einzigkeit G-ttes eingesehen.

Man kann einen Vergleich herstellen: Wenn man feststellen will, wie stark die Bindung zwischen einem Prinzen und seinem Vater, dem König, ist, dann lässt sich dies schwerlich im Palaste selber herausfinden; vielmehr ist es angebracht, den Prinzen "in die Welt" zu schicken, unter gewöhnliche Menschen. Wenn er auch dort sich noch wie ein Prinz verhält und führt, dann ist er ein wahrer Sohn seines Vaters.

Dasselbe Prinzip gilt für einen Juden: Er ist nicht im Heiligtum, sondern in der weiten Welt, mit all ihrer Vielfältigkeit, dass G-ttes Einheit und Einzigkeit sich in aller Wahrheit manifestiert. Nun lässt sich sagen, dass es auf dem Wege zur Erkenntnis G-ttes und seiner Einheit drei Etappen gibt; und diese entsprechen genau den drei Monaten zwischen Pessach und Schawuot – Nissan, Ijar, Siwan.

Nissan ist der Monat des Auszuges; dabei enthüllte sich G-tt den Israeliten, die aus Ägypten "flohen", sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, womit sie (sozusagen) diese Welt "vergaßen". Ijar, als zweiter Monat, ist ausgefüllt mit dem Omerzählen wie auch mit der Vorbereitung auf die kommenden Ereignisse vom Sinai. Da allerdings ist man sich besonders eindringlich bewusst, dass es auch eine Welt "hier unten" gibt. Im dritten Monate, Siwan, als die Tora gegeben wurde, zeigte sich in Klarheit, dass G-tt und die Welt eins sind. Dies war der Augenblick wirklicher "Vereinigung"; dasjenige, das zuerst wie etwas "Zweifaches" aussah, war tatsächlich eine Einheit.

Wenn wir die Gebote der Tora erfüllen, löschen wir gleichsam unsere eigene Existenz aus, wir geben gleichsam unsere Individualität auf; und doch haben wir uns dabei noch nicht völlig mit G-tt vereinigt. Erst mit dem Lernen der Tora wird eine solche "Verschmelzung" am Ende erreicht (s. Tanja, Kap. 5). Das ist dann die dritte – und endgültige – Phase, die Etappe von Sinai.