Zur Verfeinerung
Die Tatsache, dass G‑tt die Mizwa der Beschneidung als die Mizwa auswählte, durch die die Taten der Patriarchen die Mizwot beeinflussen, die von ihren Nachkommen ausgeführt werden, zeigt, dass diese Mizwa eine allgemeine Bedeutung hat, die für alle Mizwot relevant ist.
Zur Erklärung: Im „Führer der Verwirrten“1 – und viele der dort geäußerten Konzepte2 basieren auf dem Sohar und anderen kabbalistischen Quellen3 – schreibt der Rambam, dass einer der Gründe für die Mizwa der Beschneidung darin besteht, die Macht des sexuellen Verlangens zu schwächen. Dies spiegelt einen allgemeinen Zweck wider, der allen Mizwot gemeinsam ist, denn sie wurden gegeben, „um die geschaffenen Wesen zu vervollkommnen“4, um den physischen Körper zu verfeinern, damit er nicht von dem Verlangen nach materiellen Freuden beherrscht wird. Im Gegenteil, das Vergnügen soll ausschließlich aus dem Bereich der Heiligkeit kommen.
Drei Dimensionen der Beschneidung
Zusätzlich zur allgemeinen Verbindung, die die Beschneidung mit den anderen Mizwot teilt, gibt es besondere Dimensionen der Beschneidung, die umfassende Antriebe in unserem g-ttlichen Dienst widerspiegeln.
Wie oben erwähnt, gibt es drei Dimensionen der Mizwa der Beschneidung: a) die tatsächliche Entfernung der Vorhaut, b) dass man beschnitten ist (und, wie oben erklärt, ist dies eine fortlaufende Eigenschaft), und c) dass man nicht unbeschnitten ist.
Zwischen diesen Dimensionen zu unterscheiden, ist nicht nur eine theoretische Übung; die Auswirkungen betreffen die tatsächliche Einhaltung der Mizwa. Jede dieser Elemente ist notwendig, um die Mizwa vollständig zu erfüllen; selbst wenn zwei der drei erfüllt sind, ist die Einhaltung der Mizwa unvollständig, und das jüdische Gesetz erfordert, dass auch das dritte erfüllt wird.
Zum Beispiel, wenn, wie es manchmal vorkommt, ein Baby beschnitten geboren wird, sind zwei der Anforderungen erfüllt: Es ist beschnitten, und es ist nicht unbeschnitten. Trotzdem fehlt die dritte Anforderung, dass der Akt der Beschneidung durchgeführt wird. Und daher ist es notwendig, „das Blut des Bundes hervorzubringen“5.
Ebenso, wenn eine Person beschnitten ist und danach das Fleisch des Organs verlängert, um unbeschnitten zu erscheinen, sind zwei der drei Anforderungen erfüllt: Der Akt der Beschneidung wurde durchgeführt, und er wird nicht als unbeschnitten betrachtet, wie daran zu erkennen ist, dass er im Gegensatz zu einer Person, die nie beschnitten wurde, Teruma essen darf6. Es fehlt ihm jedoch die kontinuierliche Dimension der Beschneidung. Wie oben erwähnt, bezeichnet der Rambam dies als „den Bund unseres Patriarchen Avraham zu brechen“.
Und schließlich, wenn eine Person mit zwei Vorhäuten geboren wird und nur eine davon entfernt wird, sind wieder zwei Anforderungen erfüllt: Der Akt der Beschneidung wurde durchgeführt, und er ist beschnitten. Aber er wird immer noch als unbeschnitten betrachtet7, und dies muss korrigiert werden, um die Einhaltung der Mizwa zu vervollständigen.
Die Parallele in unserem g-ttlichen Dienst
Diese drei Dimensionen der Beschneidung spiegeln drei Antriebe in unserem g-ttlichen Dienst wider. Wie erwähnt, führt das Schneiden der Vorhaut zu einem zweifachen Ergebnis: a) dass die Person beschnitten ist, und b) dass sie nicht unbeschnitten ist. So umfasst auch unser g-ttlicher Dienst in der Einhaltung der Torah und ihrer Mizwot das Ausführen von Taten, die ein zweifaches Ergebnis haben müssen.
„Beschnitten sein“ bezieht sich auf den Dienst des „Gutes Tuns“8, das Gute zu offenbaren und auszudrücken, das jeder Jude besitzt. Genauer gesagt bedeutet dies, dass jeder Jude das Gute in sich ausdrücken sollte, indem er seine täglichen Gedanken, Worte und Taten dem Studium der Torah und der Einhaltung ihrer Mizwot widmet. Und er sollte dieses Gute ausdrücken, indem er immer bestrebt ist, als positiver Einfluss auf andere zu dienen.
„Nicht unbeschnitten sein“ bezieht sich auf den Dienst des „Bösen Abwendens“, nicht unter der Herrschaft des „Unbeschnittenen“ zu stehen, d. h. des Yetzer Hora9. Dies bedeutet, frei von bösen Wünschen zu sein.
Insbesondere handelt es sich dabei um eine zweifache Aktivität, die der Milah – dem Schneiden der dicken Vorhaut – entspricht, d. h. das Entfernen roher und grober Wünsche, und der Priya – dem Zerreißen der dünnen Membran – das Reinigen verfeinerter Wünsche.
So wie im physischen Sinne eine Person, die beschnitten geboren wird, nicht als jemand gilt, der die Einhaltung der Mizwa abgeschlossen hat, so gibt es auch eine Parallele in unserem g-ttlichen Dienst. Im Tanja10 erklärt der Alter Rebbe, dass es Individuen gibt, die mit einer Neigung zum fleißigen Studium geboren werden. Somit führt eine solche Person den Dienst des „Gutes Tuns“ (d. h. des Beschnittenseins) natürlich ohne Anstrengung aus. Ebenso, da er von Natur aus zurückgezogen ist, ist sein Streben nach physischen Wünschen eingeschränkt, und er ist von Natur aus vorsichtig im „Bösen Abwenden“ (d. h. nicht unbeschnitten zu sein).
Dennoch ist ein solcher g-ttlicher Dienst nicht ausreichend. Im Gegenteil, wie der Alter Rebbe erklärt, wird eine solche Person als „jemand, der G‑tt nicht dient“, beschrieben. Warum? Weil seinem g-ttlichen Dienst die Anstrengung fehlt. Es ist notwendig zu arbeiten, sich im g-ttlichen Dienst über das hinaus zu engagieren, was von Natur aus kommt.
Ein ähnliches Konzept gilt für eine Person, deren Neigung, „das Böse abzuwenden und Gutes zu tun“, das Ergebnis vergangener Bemühungen ist, die nun, sozusagen, zur zweiten Natur geworden sind. Wie im Tanja erklärt, kann sich eine solche Person nicht auf ihre früheren Aktivitäten verlassen, sondern muss ständig danach streben, neue Höhen zu erreichen.
Dies ist eine Richtlinie für jeden Juden, die unterstreicht, wie wir ständig in unserem g-ttlichen Dienst arbeiten müssen, anstatt mit dem Guten zufrieden zu sein, das wir bereits erreicht haben. Jeder Jude, auch einer, der nicht das Niveau eines Zaddik oder sogar das eines Benoni erreicht hat, besitzt inhärente positive Eigenschaften und eine angeborene Neigung, Gutes zu tun11. Ebenso hat er eine natürliche Abneigung gegen bestimmte negative Qualitäten. Zum Beispiel, wie im Tanja12 erklärt, ist kein Jude bereit, seinen jüdischen Glauben zu verleugnen. Für dies ist jeder Jude bereit, mit einem Engagement, das Vernunft oder Logik übersteigt, sein Leben zu opfern und/oder die schwersten Qualen zu ertragen.
Angesichts dieses Potenzials wird die oben genannte Lektion noch relevanter. Das Gute, das jeder Jude besitzt, zur Geltung zu bringen, erfordert Anstrengung. Wir müssen nicht nur daran arbeiten, positive Eigenschaften zu entwickeln, die wir nicht von Natur aus besitzen, sondern auch daran, die positiven Eigenschaften, die uns von Natur aus gegeben sind, zu verfeinern und auf eine höhere Ebene der Heiligkeit zu erheben.
Der Eintritt der g-ttlichen Seele
Auf dieser Grundlage können wir auch ein halachisches Urteil verstehen, das der Alte Rebbe in seinem Schulchan Aruch getroffen hat:13 „Die endgültige und wesentliche Dimension des Eintritts der heiligen Seele eines Mannes ist im Alter von 13 Jahren“, bei der Bar Mizwa.
[Unsere Weisen14 interpretieren daher den Ausdruck15 „ein alter, törichter König“ als den Yetzer Hora (den bösen Trieb) und bezeichnen den Yetzer Tov (den guten Trieb) mit dem Ausdruck: „Ein schwacher, aber weiser Junge.“ Der Yetzer Hora wird als alt bezeichnet, weil er 13 Jahre vor dem Yetzer Tov zu einem Menschen kommt, der aus diesem Grund als Junge bezeichnet wird.]
Dennoch, wie der Alte Rebbe weiter ausführt, kommen die ersten Stadien des Eintritts der g-ttlichen Seele während der Erziehung eines Kindes zur Einhaltung der Torah und ihrer Mizwot und insbesondere bei der Beschneidung.
Der Grund dafür ist, dass die inhärente Natur des Körpers und der tierischen Seele darin besteht, zu allen materiellen Dingen hingezogen zu werden, wie es im Vers heißt:16 „der Geist des Tieres steigt nach unten zur Erde.“ Durch die Mizwa der Beschneidung schwächt man die Aufregung und das Vergnügen, das man bei körperlichen Aktivitäten empfindet, wie oben erwähnt. Und durch diesen Akt verstärkt man das Potenzial für Aufregung und Vergnügen im Bereich der Heiligkeit. Dies ist also die Zeit, in der die g-ttliche Seele in die inneren Dimensionen des Körpers eintritt.
Ein inneres Band
Es wird keine Quelle für die Entscheidung des Alten Rebbe angegeben. Es ist möglich zu sagen,17 dass das Konzept auf der Entscheidung des Menoras HaMeor von R. Yisrael Alnakavah18 basiert, der die Meinung als Halacha akzeptiert, die besagt:19 „Wann [erlangt] ein Kind das Recht, in die kommende Welt einzutreten? Wenn es beschnitten ist.“
Die kommende Welt bezieht sich auf die Ära der Auferstehung. Das Verdienst, das den Körper befähigt, von den Toten aufzuerstehen, stammt aus dem Einfluss der Seele auf ihn und der Tatsache, dass dieser Einfluss internalisiert wurde. Die Entscheidung des Menoras HaMeor, dass nach der Beschneidung ein Baby das Verdienst der Auferstehung erlangt, dient somit als Quelle für die Entscheidung des Alten Rebbe, dass der Eintritt der g-ttlichen Seele eines Menschen in seinen Körper durch die Mizwa der Beschneidung erfolgt.
Schon vor der Beschneidung – ja, sogar vor der Geburt – hat die Seele eine Verbindung mit dem Körper, wie unsere Weisen sagen,20 dass ein Kind im Mutterleib „eine Kerze über seinem Kopf brennt,… und ihm wird ein Eid gegeben: ‚Sei gerecht…‘“, d.h., der Seele wird ein Eid gegeben, wie sich der Körper nach der Geburt verhalten wird.21 Wir sehen also, dass die Seele schon vor der Geburt eine Verbindung mit dem Körper hat. Diese Verbindung ist jedoch extern: Die „Kerze brennt über seinem Kopf“, d. h. über ihm. Durch die Beschneidung hingegen wird die Verbindung der Seele mit dem Körper internalisiert; und somit markiert die Beschneidung den Eintritt der heiligen Seele in den Körper.
Die Belohnung für diese Mizwa
Die oben erwähnten zwei Aspekte der Mizwa: dass ein Jude beschnitten wird und dass er nicht mehr unbeschnitten ist, spiegeln sich in zwei Aspekten der Belohnung wider, die für die Einhaltung dieser Mizwa gewährt werden.22
Die Belohnung für den positiven Aspekt der Beschneidung ist, dass man das Verdienst erlangt, in die kommende Welt einzutreten, wie bereits erwähnt. Die Belohnung für den negativen Aspekt (dass man nicht mehr unbeschnitten ist) ist, dass, wie unsere Weisen sagen,23 Avraham am Eingang zu Gehinom sitzt und keinem beschnittenen Juden erlaubt, einzutreten.24
Letztendlich wird das Verdienst der Beschneidung die Juden aus der Unterdrückung durch die nichtjüdischen Nationen befreien, was Gehinom gleichkommt,25 wie unsere Weisen sagen,26 die den Ausdruck „Schau auf den Bund“ kommentieren: „Selbst wenn Israel keine guten Taten besitzt, wird der Heilige, gesegnet sei Er, sie im Verdienst der Beschneidung erlösen“, mit dem Kommen des Maschiach in naher Zukunft.
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