Die für Jom Kippur vorgesehene Tora-Lesung stammt aus dem Buch Levitikus, dem Beginn des Abschnitts Achare Mot in der Bibel. Im Wesentlichen werden darin die G-ttesdienste im Detail besprochen, die der Kohen Gadol an diesem heiligen Tag verrichten muss, wenn er den Kodesch – den Heiligen – und den Kodesch HaKadaschim – das Allerheiligste – betritt.
Leider haben wir derzeit weder ein Kodesch Hakadaschim noch einen Kohen Gadol. Daher sind alle in diesem biblischen Abschnitt besprochenen Details rein akademisch und derzeit irrelevant, insbesondere für Juden in der Diaspora.
Man mag sich daher fragen, warum dies auch jetzt noch die zugewiesene Lesung ist.
Die Tora ist kein Geschichtsbuch und auch kein Märchenbuch, in dem interessante Geschichten und Episoden aufgezeichnet sind. Laut dem Midrasch ist das Wort Tora etymologisch mit dem Wort „hora'ah“ verbunden, was Lehre und Führung bedeutet (Sohar, III:53b). Unabhängig davon, welche Teile der Tora man lernt, sollte man die in den Worten verborgene Botschaft studieren und darüber nachdenken. Auch wenn es oberflächlich betrachtet so aussehen mag, als würde über einen bestimmten Ort, ein bestimmtes Ereignis oder ein bestimmtes Gebot diskutiert, sollte man die Tora so interpretieren, dass eine zeitlose Botschaft und Lehre zum Vorschein kommt.
Aus Zeitgründen können wir nicht alle vierunddreißig Pesukim der heutigen Lesung durchgehen. Ich möchte Ihnen jedoch eine Interpretation eines der ersten Verse vorstellen.
Mosche wurde angewiesen, seinem Bruder Aharon, dem Kohen Gadol, zu sagen: „Al jawo bechol et el hakodesch“ – „Er darf nicht zu jeder Zeit in das Heiligtum eintreten“ (16:2). Dies ist einfach eine Anweisung an Aharon, dass er das Allerheiligste des Stiftszeltes das ganze Jahr über nicht betreten darf.
Darin liegt jedoch auch eine Botschaft an jeden Juden, wie er sich in Bezug auf die Heiligkeit unseres Volkes, nämlich die Tora und die Mizwot, verhalten sollte.
Viele Menschen glauben fälschlicherweise, dass die Tora veraltet und nicht mehr zeitgemäß ist. Daher behaupten sie, dass es notwendig sei, die Tora so zu modifizieren und anzupassen, dass sie mit dem heutigen Lebensstil vereinbar ist. Um dies zu negieren, erklärt die Tora: „Al jawo bechol et el hakodesch.“ Wenn man sich dem Kodesch nähert – der Heiligkeit der Tora und der Mizwot –, darf man keine Anpassungen von „bechol et“ vornehmen – aktuelle Trends und Modeerscheinungen. Wir müssen die Philosophie „bechol et“ ablehnen, d. h. die Idee, dass wir uns den Moden, Diktaten und Normen der heutigen Gesellschaft anpassen müssen.
Es gibt eine Geschichte über einen Amerikaner, der seinen Sohn nach London mitnahm, um ihm die interessanten Sehenswürdigkeiten dieser historischen Stadt zu zeigen. Während der Tour führte der Vater ihn unbedingt zum Parlament und zeigte ihm die riesige Uhr auf dem Dach des Gebäudes, die als „Big Ben“ bekannt ist. Das Kind bemühte sich, einen vollständigen Blick auf die Uhr zu erhaschen, ebenso wie die anderen, die kamen, um sie zu sehen. „Papa, ich möchte dich etwas fragen“, sagte der Junge. ‚Warum haben sie die Uhr so hoch angebracht, dass die Leute sich den Hals verrenken müssen, um nach oben zu schauen? Hätten sie die Uhr nicht auf Augenhöhe anbringen können, damit sie jeder leicht und ohne Mühe sehen kann?‘
Der Vater dachte einen Moment nach und antwortete: „Es ist so: Hätten sie die Uhr niedrig angebracht, würden die Menschen die Uhrzeit von Big Ben an ihre Uhren anpassen. Jetzt, da die Uhr hoch angebracht ist und für alle unerreichbar ist, können sie nicht versuchen, sie neu einzustellen. Wenn sie die richtige Zeit haben wollen, müssen sie ihre eigenen Uhren nach der von Big Ben angezeigten Zeit stellen.“
Das Gleiche gilt für die Tora. Die Tora ist der Big Ben der Juden. Wir sollten sie immer als etwas betrachten, das sich auf einer erhabenen Ebene befindet, damit sie nicht von bloßen Sterblichen verändert wird. Sie ist die richtige „Zeit“ für uns alle, und wir müssen uns an diese g-ttliche Uhr anpassen und dürfen nicht versuchen, sie nach unserer Meinung und Bequemlichkeit zu verändern.
Lassen Sie uns an diesem heiligsten Tag des Jahres beschließen, unser Leben nach der Tora auszurichten, und lassen Sie die authentische Lehre der Tora unser Wegweiser für das ganze Jahr sein.
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