V. Wir sind zuversichtlich, dass der Allmächtige an Rosch haSchana sicherlich allen ein gutes und süßes Jahr gegeben hat mit jeder Art des Überflusses an „Kindern, Leben und Lebensunterhalt“1 in wahrhaft offenkundigem Guten für sie selbst und ihre Familien.

Es gibt keine Grenzen für das Gute. So hat uns der Allmächtige die Tage zwischen Rosch haSchana und Jom Kippur, die „Aseret Jemej Teschuwa – Zehn Tage der Teschuwa“, zur Verfügung gestellt: Durch die Awoda während dieser Tage kann man bewirken, dass der Allmächtige uns an Jom Kippur immer mehr aus „Seiner vollen und großzügigen Hand“ gewährt.

Die Awoda dieser Tage wird in der Liturgie im Machsor als „Teschuwa, Tefilla und Zedaka“ definiert.2 Diese drei bewirken, dass der Allmächtige aus „Seiner vollen und großzügigen Hand“ gibt.

VI. Diese drei Begriffe sind auf den ersten Blick auch bei Nicht-Juden zu finden. Auch sie haben die Begriffe „Reue, Gebet und Wohltätigkeit.“ Es gibt jedoch einen großen und grundlegenden Unterschied zwischen der jüdischen Auffassung von diesen Begriffen, und wie sie, Lehawdil, unter Nicht-Juden verstanden werden. Dieser Unterschied zeigt sich schon in den Begriffen Teschuwa, Tefilla und Zedaka.

VII. Teschuwa:

Das eigentliche hebräische Äquivalent für das deutsche Wort „Reue“ ist Charata, doch wir verwenden den Begriff Teschuwa.

Der Unterschied zwischen Charata und Teschuwa wird in ihren gegensätzlichen Bedeutungen sichtbar:

Der Schwerpunkt von Charata liegt auf einem Neuanfang: Man bereut die Begehung ungebührlicher Taten oder das Unterlassen guter Taten in der Vergangenheit und ist entschlossen, einen neuen Weg einzuschlagen.

Die Betonung von Teschuwa liegt auf „umkehren.“ Ein Jude ist im Grunde gut und versucht, Gutes zu tun. Verschiedene Gründe, die man ihm nicht oder nur wenig vorwerfen kann, veranlassen ihn, etwas Unrechtes zu tun.3 Im Kern ist er aber gut. Teschuwa bedeutet also, dass er sich auf den Weg macht, um zu seiner Wurzel und Quelle zurückzukehren, zum Kern seines wahren Wesens, um sein innerstes Selbst aufzudecken und zu offenbaren, damit es sein Leben bestimmt.

Das Konzept von Teschuwa gilt also für jeden, auch für einen Zaddik.4 Denn der Zaddik strebt ständig danach, sein Innerstes zu erreichen und ans Licht zu bringen. Was den Rascha (den Bösen) betrifft, so ist er immer in der Lage, Teschuwa zu tun, egal wie tief er gefallen sein mag; denn er braucht nichts Neues zu vollbringen, sondern nur zu seinem Innersten zurückzukehren.

VIII. Tefilla:

Das eigentliche hebräische Äquivalent für das deutsche Wort „Gebet“ ist Bekascha, doch wir verwenden den Begriff Tefilla.

Der Unterschied zwischen Bekascha und Tefilla wird auch in ihren gegensätzlichen Bedeutungen sichtbar:

Die Betonung von Bekascha liegt auf Bitten und Flehen: G-tt wird gebeten, das, was einem fehlt, von Oben zu gewähren. Es gibt keine Bekascha, wenn nichts fehlt oder wenn es keinen Wunsch nach etwas gibt.

Der Begriff Tefilla bedeutet Zusammenschluss.5 Die Betonung von Tefilla liegt darin, sich mit G-tt zu verbinden, eine Bewegung von unten nach oben. Das gilt für alle und zu jeder Zeit.

Jeder Jude hat eine Seele, die mit G-tt verbunden ist. Diese Seele ist jedoch in einen Körper hinabgestiegen und mit diesem verbunden. So wird sie in körperliche Aktivitäten wie Essen, Trinken und so weiter eingebunden. Für die Dauer dieser Beschäftigungen wird ihre Bindung an G-tt geschwächt. Deshalb werden im Laufe des Tages bestimmte Zeiten für Tefilla vorgesehen, um die Verbindung der Seele mit G-tt zu erneuern und zu stärken.6

Das Konzept von Tefilla ist also auch für diejenigen von Bedeutung, denen es an nichts fehlt. Denn Tefilla bedeutet nicht nur Bitten und Flehen; es ist im Wesentlichen eine Erneuerung der eigenen Verbindung mit G-tt und des Anhangens an Ihn.

IX. Zedaka:

Das eigentliche hebräische Wort für das deutsche Wort „Nächstenliebe“ ist Chessed,7 doch wir verwenden den Begriff Zedaka.

Der Unterschied zwischen Chessed und Zedaka wird auch in ihren gegensätzlichen Bedeutungen sichtbar:

Der Begriff Chessed weist darauf hin, dass wir es mit einem guten und freundlichen Menschen zu tun haben: Es gibt keine Verpflichtung zu geben, man schuldet dem Empfänger nichts, aber man gibt aufgrund einer wohlwollenden Gesinnung.

Die Betonung von Zedaka liegt jedoch auf dem Sinn für Gerechtigkeit.8 Dieser Sinn ist ein doppelter:

(a) Man ist verpflichtet, anderen zu geben. Man ist sich bewusst, dass man nicht das Eigene gibt, denn G-tt hat ihm seinen Besitz anvertraut, damit er anderen gibt.9

(b) Der Geber selbst ist abhängig von G-tt, von G-ttes Gaben. Der Allmächtige ist ihm sicherlich zu nichts verpflichtet. Daher ist man aufgerufen – ja, man ist verpflichtet10 – „Maß für Maß“11 zu handeln und anderen zu geben, obwohl man ihnen nichts schuldet. So zu handeln, ruft eine Himmlische Gegenseitigkeit hervor, dass der Allmächtige ihm weit mehr schenken wird, als ihm zusteht, so wie er selbst über seine Verhältnisse gegeben hat.12

Dies gilt vor allem für Zedeka, die vielen zugutekommt, und insbesondere die Zedeka für Tora-Institutionen. Denn jeder Mensch, der in solchen Einrichtungen ausgebildet wird, ist ein zukünftiges Fundament für den Aufbau des Hauses Israel und ein zukünftiges Vorbild für seine Umgebung. Wenn man also Zedaka an solche Tora-Institutionen spendet, kann man sich an den Allmächtigen wenden und sagen: „Ich habe sozusagen für Deine Anliegen über meine Verhältnisse gegeben, also gib auch Du für meine Anliegen mehr, als ich verdiene.“

X. Diese drei, Teschuwa, Tefilla und Zedaka, bewirken eine Besiegelung für das Gute. Wenn wir zum innersten Selbst zurückkehren – d. h. Teschuwa – und wenn wir uns an G-tt binden – d. h. Tefilla – und Zedaka in einem Modus der Gerechtigkeit geben, wird der Allmächtige uns an Jom Kippur noch viel mehr schenken, als Er es bereits an Rosch haSchana getan hat, ein wahrhaft gutes und süßes Jahr mit empirisch manifestem Guten.

(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am 6. Tischrej 5713)