I. „Nehmt dieses Buch der Tora und legt es zur Seite der Bundeslade des Ewigen, eures G-ttes.“1

Die Gemara2 bietet zwei Meinungen über die Bedeutung dieser Anweisung. Nach der einen Ansicht bedeutet sie, dass die Tora-Rolle zusammen mit den Luchot (den Tafeln mit den Zehn Geboten) in die Lade gelegt wurde. Nach einer anderen Ansicht wurde die Tora-Rolle [auf ein Bord] neben die Lade gelegt. In jedem Fall befand sich die Tora-Rolle im Kodesch haKodaschim (Allerheiligstes).

Der Kodesch haKodaschim enthielt also sowohl die Luchot, deren Schriftzeichen [in Stein] eingraviert waren,3 als auch die Tora-Rolle, deren Schriftzeichen [auf Pergament] geschrieben waren.

Dies wirft die Frage nach der Art der Beziehung zwischen einer Tora-Rolle (geschriebene Schriftzeichen) und dem Kodesch haKodaschim auf.

Die Beziehung zwischen den Luchot (eingravierte Schriftzeichen) und dem Kodesch haKodaschim ist offensichtlich. Von dem Kodesch haKodaschim heißt es: „Die Bundeslade nahm keinen Raum ein.“4 Mit anderen Worten: Obwohl es einen endlichen Raum gab und die Lade zweieinhalb Ellen lang und eineinhalb Ellen breit war,5 transzendierte dieser Platz den Raum.6 (Auch der „Zeit“-Aspekt des Kodesch haKodaschim transzendierte die Kategorie „Zeit“, denn die Kategorien von Raum und Zeit sind eng miteinander verbunden.7 )

Ähnlich verhält es sich mit eingravierten Buchstaben. Einerseits sind es echte Buchstaben, mit all den Dimensionen, die Buchstaben haben, damit man sie als solche erkennt. Andererseits haben sie den Luchot nichts hinzugefügt. Das Schreiben fügt dem Pergament [oder Papier] etwas (nämlich Tinte) hinzu. Eingravierte Buchstaben sind jedoch aus ein und derselben Substanz.8 Dies zeigt sich besonders an den Buchstaben des [Schluss-]Mem und des Samech, die „wie durch ein Wunder an ihrem Platz standen.“9

Die Beziehung zwischen eingravierten Buchstaben und dem Kodesch haKodaschim ist also offensichtlich. Aber wie ist die Beziehung zwischen geschriebenen Buchstaben und dem Kodesch haKodaschim?

II. Der einzigartige Aspekt des Kodesch haKodaschim, dass nämlich „Zeit und Raum Zeit und Raum transzendieren“, soll über ihn hinaus ausstrahlen: in den Esrat Kohanim, den Esrat Jisrael, den Esrat Naschim,10 den Tempelberg und sogar über den Tempelberg hinaus, bis zu dem Punkt, dass die Nationen der Welt – (wo immer sie sind, und nicht nur, wenn sie zum Bet haMikdasch kommen) – sich auch bewusst werden, dass „Zeit und Raum Zeit und Raum transzendieren.“ Diese Erkenntnis bewirkt, dass „Fremde aufstehen und eure Herden hüten werden.“11

Dies erklärt, warum es im Kodesch haKodaschim auch geschriebene Schriftzeichen gab. Sie waren der Vermittler dafür, dass das Licht des Kodesch haKodaschim in die Realität und Substanz dessen, was außerhalb davon lag, hineingezogen werden konnte.

III. Chassidut12 erklärt den Vorteil der Awoda von Rosch haSchana gegenüber der Awoda des ganzen Jahres: Das ganze Jahr über unterliegt die Awoda im Wesentlichen der Vernunft und dem Verständnis. Auch Mesirat Nefesch des ganzen Jahres ist irgendwie mit Vernunft und Verständnis verbunden. Die Awoda von Rosch haSchana ist jedoch eine Awoda von Bitul (Selbstverneinung), die völlig jenseits von Vernunft und Verständnis liegt.

Dies muss uns zu folgender Erkenntnis führen: Das ganze Jahr hindurch ist kein über die Vernunft hinausgehendes Bitul (Selbstverneinung) erforderlich. Dennoch sollte man auch dann in seiner regulären Lebenswirklichkeit die Art von Awoda verfolgen, die aus Bitul von Rosch haSchana folgt, analog zu dem Kodesch haKodaschim, dessen Ausstrahlung in die geschriebenen Schriftzeichen hinein und darüber hinaus auch in das Äußerliche gezogen wurde.

Dies wiederum wird bewirken, dass die Aspekte, die an Rosch haSchana hervorgerufen werden, das ganze Jahr über in einem realen Sinne, sogar auf der physischen Ebene, für alle Bedürfnisse des Menschen herbeigezogen werden.

IV. Man bereitet sich auf diese Herangehensweise vor mit „Ihr steht heute an diesem Tag – (‚dem Tag des großen Gerichts‘13 ) – ihr alle ... die Häupter eurer Stämme ... von deinem Holzhauer bis zu deinem Wasserschöpfer.“14 Man mag persönlich zu den „Häuptern eurer Stämme“ gehören, wird aber mit anderen Juden verbunden, einschließlich der Kategorie der „Holzhauer und Wasserschöpfer“, so dass die Einheit mit den anderen das „ ihr alle (zusammen) vereint“ bewirkt.15

Die Haltung, nicht zwischen den „Häuptern eurer Stämme“ und dem „Holzhauer und Wasserschöpfer“ zu unterscheiden, verleiht die Energie und die Fähigkeit, keinen Unterschied zwischen der Awoda von Rosch haSchana und dem Rest des Jahres zu machen und das ganze Jahr über von Bitul von Rosch haSchana inspiriert zu bleiben.

So bewirkt man auch, dass die Himmlische Ausstrahlung das ganze Jahr über spürbar wird, bis hin zu dem Punkt, dass „Fremde aufstehen und eure Herden hüten werden.“ Denn wenn man Bitul von Rosch haSchana im „Fremden“ in sich selbst (d. h. im physischen Körper und in der tierischen Seele) und im „Fremden“ im Mitjuden bewirkt, dann werden auch die Nationen der Welt – die die wahren Fremden sind – dazu bewegt, die Qualität Israels zu spüren, und „sie werden eure Herden hüten.“

So verdient man es, dass die Ausstrahlung, die an Rosch haSchana hervorgerufen wird, das ganze Jahr über auch auf die physische Ebene herabsteigt, für alle seine Bedürfnisse, in sichtbarer und offensichtlicher Güte. Man verdient es, zusammen mit ganz Israel für ein gutes und süßes Jahr mit empirisch sichtbarem Guten eingeschrieben und besiegelt zu werden.

(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am Schabbat Paraschat Nizawim-Wajelech 5712)